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Die Zeit in Wien 31
vom 1.9.1924 bis 27.2.1939 ist für Simon Dicker in der Bleichergasse 18/19 eine Han-
delsagentur eingetragen.22 Auf einem erhaltenen Briefbogen lautet der Briefkopf: „Simon
Dicker, Wien, Mal- und Bilderbücher, Jugendschriften, Briefmarkenalbum in allen Spra-
chen. Gesellschaftsspiele. ‚Austria‘ Präcisions- Fachschul- u. Schulreisszeuge. Mathem.
Instrumente. Taschen-Kino mit Film.“23 Möglicherweise handelte es sich also um ein
Büro für den An- und Verkauf jener Waren.24
Die finanzielle Lage des Vaters war teilweise prekär, so berichtet Friedl Dicker an ihre
Freundin Anny Wottitz (1900–1945) um 1920: „Mein Vater schindet sich, ist vielleicht
da er aus Deutschland alles bezieht insolvent und ähnliches. [...] aber der Winter steht
vor der Tür, meine Eltern haben fast keine Kohle.“25
Den wechselnden Einkommensquellen des Vaters zufolge wuchs Dicker in deutlich
bescheideneren Verhältnissen als Franz Singer auf, umso bemerkenswerter ist die Förde-
rung der künstlerisch begabten Tochter.26 Nach dem dreijährigen Besuch einer Volks-
und Bürgerschule für Mädchen entschied Dicker sich dazu, die Graphische Lehr- und
Versuchsanstalt zu besuchen, um dort vom Wintersemester 1912/1913 bis zum Som-
mersemester 1915 eine Ausbildung zur Fotografin und Reproduktionstechnikerin zu
absolvieren.27 Anschließend schrieb sie sich am 16. Oktober 1915 für die Textilklasse
bei Rosalia Rothansl (1870–1945)28 an der Wiener Kunstgewerbeschule ein und belegte
nebenher Kurse bei Franz Cizek (1865–1946), der dort einen Kurs für „Ornamentale
22 WÖA, Auskunft Rita Tezzele, E-Mail, 21.3.2017.
23 UAKKA, Brief Friedl Dicker an Anny Wottitz, undatiert, um 1922, Inv.-Nr. 13.705/3.
24 Bei Makarova ist angegeben, dass der Vater ein Papierwarengeschäft führte, dies scheint jedoch durch
die Auskunft des WÖA, dass Simon Dicker an diesem Standort als „Warenvermittler“ tätig war, un-
wahrscheinlich. Vgl. Makarova 1999, S. 11; WÖA, Auskunft Rita Tezzele, E-Mail, 21.3.2017.
25 UAKKA, Brief Friedl Dicker an Anny Wottitz, undatiert, um 1920, Inv.-Nr. 13.709/1.
26 Jüdische, zumeist assimilierte Familien legten besonderen Wert auf die Ausbildung ihrer Kinder, da
sie gesellschaftlichen Aufstieg und soziale Anerkennung in der westlichen Gesellschaft anstrebten.
Bildung war in einer von Antisemitismus geprägten Umwelt die Grundlage weiblicher Emanzipa-
tion. Siehe dazu: Göllner 1995, S. 11–12.
27 Dickers Studienzeit an der Höheren Graphischen Bundes-Lehr- und Versuchsanstalt umfasste den
Zeitraum WS 1912/13 bis SoSe 1914/15. Im SoSe 1916/17 erscheint sie noch einmal in der Sek-
tion für „Lithographie, Radierung, Xylographie und zugehörige Grafik“. Die Graphische, Auskunft
Klaus Walder, E-Mail, 15.4.2013.
28 Rosalia Rothansl war an der Wiener Kunstgewerbeschule als Vertragslehrerin von 1901 bis 1909 im
Spezialkurs für Teppich- und Gobelinrestaurierung, von 1909 bis 1911 im Sonderkurs für Textil-
arbeiten und ab 1911 in der Werkstätte für Textilarbeiten tätig. Ab 1914 wurde sie festangestellte
Lehrerin und übernahm auch die Verwaltung und Pflege der Kostümsammlung. Als erste Frau mit
Professortitel an der Kunstgewerbeschule war sie von 1920–1925 Professorin der Werkstätte für
Textilarbeiten. Siehe: Patka/Vogelsberger 1986, S. 399.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482