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Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 53
Gropius selbst wies die Vorwürfe der deutschnational gesinnten SchülerInnen in ei-
nem Schreiben an das Kultusministerium vom 27. Februar 1920 entschieden zurück:
„Die Behauptung, österreichische, tschechische und ungarische Schüler seien ohne Bei-
bringung der nötigen Unterlagen aufgenommen, ist unwahr, worüber die Akten aus-
weisen. Die Äußerungen der Frau Diedrich über die „Moral“ der Schüler insbesondere
über Fräulein Friedländer sind haltlos und leichtfertig. Schüler (nicht Schülerinnen) ste-
hen sich mit Wissen der Lehrer bisweilen gegenseitig Modell, es liegt kein Grund vor,
dies zu untersagen. [...] Die Angaben, die österreichischen Studierenden seien bevorzugt
worden, sind aus der Luft gegriffen. Freitische – aus privat eingesammelten Stiftungen
– wurden an besonders bedürftige Schüler gegeben, die meist von den gewählten Ver-
tretern der Studierenden, die über die wirtschaftliche Lage der einzelnen Schüler am
besten unterrichtet waren, der Leitung schriftlich vorgeschlagen wurden. Darunter wa-
ren auch einige Österreicher.“149 Und auch Franz Singer wird von Gropius in Schutz
genommen: „Der Schüler Singer (Klasse Itten) ist ein außergewöhnlich intelligenter und
selbstbewußter Mann. Er tritt zuweilen etwas herrisch auf.“150 In einem undatierten Brief
schreibt er allerdings an die Künstlerin Lily Hildebrandt und Frau des Kunsthistorikers
Hans Hildebrandt zur Lage am Bauhaus: „[...] Die geistvoll-jüdische Gruppe Singer-
Adler ist zu utopig geworden und hat leider auch Itten ernstlich beeinflußt. Mit diesem
Hebel wollen sie das ganze Bauhaus in die Hand bekommen. Da lehnten sich die Arier
begreiflicherweise Weise auf. Ich muß nun schlichten. Nun ebbt die Sintflut ab und es
scheint, daß es meiner maßlosen Kraftanstrengung gelungen ist, die Kämpfer einschließ-
lich Itten fürs erste klein zu kriegen. Es ist mir klar, daß Leute wie Singer-Adler nicht
ans Bauhaus gehören und mit der Zeit fort müssen, wenn Ruhe eintreten soll. Sie spüren
beide, daß sie Fiasko gemacht und sind beide recht betreten. [...]“151
Die Vorwürfe gegen das Bauhaus wurden am 31. Mai 1920 schließlich offiziell durch
das amtliche Untersuchungsergebnis des Kultusministeriums entkräftet: „Die gegen die
Leitung des Bauhauses und gegen die Schülerschaft erhobenen Vorwürfe stellen sich da-
149 ThHStA Weimar, Staatsministerium, Departement des Kultus Nr. 276, Bl. 113–133 (Ausfertigung),
in: Wahl 2009, S. 246.
150 ThHStA Weimar, Staatsministerium, Departement des Kultus Nr. 276, Bl. 113–133 (Ausfertigung),
in: Wahl 2009, S. 245–246.
151 Brief Walter Gropius an Lily Hildebrandt, undatiert, ca. April 1920, in: Kat. Ausst. Kunstsamm-
lungen zu Weimar 1994, S. 455–456. Es ist darauf hinzuweisen, dass das Zitat in der Literatur über
Dicker und Singer oftmals nicht korrekt zitiert wurde. So heißt es fälschlicherweise bei Makarova,
der Satz stamme aus einem Brief von Friedl Dicker[!] an Lily Hildebrandt. Zudem heißt es die
„geistvoll-jüdische Gruppe Singer-Adler“ sei „zu mächtig“, anstatt korrekt „zu utopig“ geworden.
Vgl. Makarova 1999, S. 19, 39 (Fußnote 26); Ausst. Kat. 1988, S. 9.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482