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Dickers und Singers künstlerische
Ausbildung60
rungslehre“ ging von der Annahme aus, dass Klang und Farbe zusammenhängen und
bestimmte Bewegungen bzw. Formen auslösen. Ihre Unterrichtsübungen zur Schulung
der Sinne dienten dazu, den Gestaltungsprozess von innen her zu verstehen und in Gang
zu setzen.200 Grunows Lehrmethoden entsprachen Ittens Überzeugung: „Alles Lebendige
offenbart sich dem Menschen durch das Mittel der Bewegung. Alles Lebendige offenbart
sich in Formen. So ist alle Form Bewegung und alle Bewegung offenbar in Form. Die
Formen sind Gefäße der Bewegung und Bewegungen das Wesen der Form.“201 Es ist
annehmbar, dass auch Dicker und Singer ihren Kurs besuchten.202
Da Itten seit 1921 mit Gropius hinsichtlich Eigenart und Zielrichtung des Bauhauses
zunehmend in Konflikt geriet, zog er sich ab Sommersemester 1922 nach und nach vom
Unterricht zurück.
Aus dem wissenschaftlichen Interesse an einem gesetzmäßigen Zusammenhang zwi-
schen Form und deren Wirkung war am Bauhaus das Ziel der Entwicklung einer uni-
versell gültigen Gestaltungssprache entstanden.203 Paul Klee, der am 1. Dezember 1920
eine Stelle am Bauhaus angetreten hatte, hielt ab 1921 seinen Unterricht in „Bildneri-
scher Formlehre“ ab, der den Rahmen von Ittens Unterricht erheblich erweiterte. Klees
Vorträge im Wintersemester 1922/1923 waren ausschließlich einer systematischen Far-
benlehre gewidmet, wobei er diese „aus der Pendelbewegung zwischen komplementären
Farbpaaren“204 ableitete, gleich dem musikalischen Prinzip der Polyphonie.205 In einer
Studie aus dem Unterricht bei Klee hat Singer den Komplementärkontrast von gelber
und violetter Farbe nachvollzogen (Abb. 14). Dicker orientiert sich an Klees Malerei in
zwei Aquarellen (Abb. 15–16).
Obwohl Friedl Dickers schwerpunktmäßiger Besuch der Weberei vom Sommersemes-
ter 1920 bis zum Wintersemester 1923/24 als Fortsetzung ihrer an der Wiener Kunstge-
werbeschule begonnenen Ausbildung stringent erscheint, ist zu beachten, dass die Aus-
bildung von Frauen in anderen Bauhaus-Werkstätten im Prinzip nicht vorgesehen war.206
Ausnahmen bildeten hier nur einige wenige weibliche Studierende wie Marianne Brandt,
die der Metallwerkstatt beitreten durfte, und Alma Buscher, die zwar als einzige Frau am
200 Düchting 1996, S. 42.
201 Itten 1921, S. 33.
202 Vgl. Düchting 1996, S. 41.
203 Stasny 1994, S. 174 und 184.
204 Ebd., S. 178.
205 Schimma 2009, S. 258.
206 Winkler 2008, S. 20–22. In der Meisterratssitzung vom 30. März 1920 wurde beschlossen, Dicker
„definitiv“ aufzunehmen. Siehe: ThHStA Weimar, Staatliches Bauhaus Weimar 12, Bl. 42, in: Wahl
2001, S. 78.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482