Seite - 130 - in Bauhaus in Wien? - Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
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Die Wiener Ateliergemeinschaft
1925–1938130
immer wieder zur Selbstständigkeit, schätzte die beruflichen Möglichkeiten der Frau zu
jener Zeit aber realistisch ein: „Ich ahne jetzt die Grenzen der Frau; Ihre Entscheidung
zwischen Mann und Talent [...].“48 Die künstlerische Begabung der Frau war damals
gesellschaftlich noch nicht akzeptiert. Dies wird auch daran deutlich, dass Franz Singer
in einem Brief an Berthold Viertel Dickers Begabung ausdrücklich betont: „Sie ist sehr
klug u. ich fürchte, daß Sie sie in jeder Beziehung unterschätzen.“49 Singer selbst sparte
Dickers Beteiligung im Zusammenhang mit den Innenraumgestaltungen aber sowohl in
den Zeitschriftenpublikationen als auch in seiner 1937 verfassten Werkliste aus. Auch in
dem zeitgenössischen Lexikoneintrag zu Franz Singer wird Dicker nicht als Mitarbeiterin
in Bezug auf die Innenraumgestaltungen und Bauten genannt. Lediglich bei den The-
ater-Arbeiten ist vermerkt, dass diese gemeinsam mit Dicker entstanden seien.50 Damit
betont Singer einmal mehr seine leitende Funktion im Atelier.51
Charlotte Zwiauers Einschätzung, dass „jeder seinen Part, aber nicht im Sinne einer
Über/Unterordnung, sondern einer ebenbürtigen, fruchtbaren Gemeinschaft“52 inner-
halb des Ateliers gespielt habe und beide in der „Außenwahrnehmung [...] als eigenstän-
dige künstlerische Persönlichkeiten angesehen“53 wurden, lässt sich nur durch singuläre
Beispiele belegen. Die gleichberechtigte Tätigkeit geht beispielsweise aus einem Brief der
Auftraggeberin Else Reisner an Dicker und Singer hervor, bezüglich der für sie 1929
eingerichteten Wohnung: „Wir haben wirklich das Bedürfnis Ihnen beiden zu sagen,
wie wohl wir uns in der Wohnung fühlen, wie günstig sie unsere Stimmung durch die
ihr innewohnende Harmonie und Heiterkeit beeinflusst und wie sehr wir uns auf den,
leider so seltenen, Aufenthalt in ihr freuen. Unsere, vorläufig noch, glückliche Ehe ist
folglich zum grossen Teil Ihr Verdienst! Ich bemerke zwar, dass der Brief so ähnlich wie
die gewissen, in den Zeitungen veröffentlichten Anpreisungen medizinischer Präparate
klingt, versichere Ihnen aber, dass er keine konventionelle Angelegenheit, sondern nur
der Ausdruck unserer aufrichtigen Dankbarkeit sein soll. [...] Wir würden uns sehr, sehr
freuen, wenn Sie einmal Zeit fänden uns zu besuchen [...].“54
Allein der mit Friedl Dicker befreundete Kunsthistoriker Hans Hildebrandt, der auch
ein Freund von Gropius und Unterstützer des Bauhauses war, führt Dicker in Bezug
auf die Innenraumgestaltungen in seinem 1931 publizierten Handbuch der Kunstwis-
senschaft55 an (Abb. 88): „Abseits gelangten Franz Singer und Friedel [sic!] Dicker zu
48 UAKKA, Brief Friedl Dicker an Anny Wottitz-Moller, undatiert, um 1923, Inv.-Nr. 12.884/Aut/4.
49 DLM, Bestand: A: Viertel, Salka, 80.1.594, Brief Franz Singer an Berthold Viertel, undatiert.
50 Poglayen-Neuwall 1978, S. 88–89.
51 Maasberg/Prinz, 2004, S. 127.
52 Zwiauer 2004, S. 236.
53 Zwiauer 2004, S. 236.
54 AGS, Brief Else Reisner an Friedl Dicker, 20. November 1929.
55 Hildebrandt 1931.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482