Seite - 176 - in Bauhaus in Wien? - Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
Bild der Seite - 176 -
Text der Seite - 176 -
„Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien
176
einige von Wagners Schülern und Mitarbeitern, wie Joseph Maria Olbrich (1867–1908)
und Josef Hoffmann sowie Koloman Moser (1868–1918) und Gustav Klimt (1862–
1918), zum Siebener-Club zusammen. Aus diesem Kreis ging schließlich die 1897 ge-
gründete Vereinigung bildender Künstler Österreichs Wiener Secession hervor, deren Ziel es
war, die historistische Formenwelt durch einen modernen, bürgerlichen und österreichi-
schen Stil zu ersetzen.19 Überzeugt davon, Leben und Kunst zu verbinden, plädierten sie
für den individuellen künstlerischen Ausdruck als Gegenreaktion auf die als internatio-
nal austauschbar empfundenen Formen der Industrialisierung. Den Gedanken von der
Einheit der Künste, bei der die Verschmelzung von bildender und angewandter Kunst
angestrebt war, übernahmen die Secessionisten von der englischen Arts-and-Crafts-Be-
wegung.20 Josef Hoffmann schrieb 1901 in seinem Text „Einfache Möbel“: „Ich glaube,
dass ein Haus wie aus einem Guss dastehen sollte [...].“21
Adolf Loos, der nach einem dreijährigen Aufenthalt in den USA 1896 über London
nach Wien zurückkehrte und sich nun für seine Wohnraumeinrichtungen am angelsäch-
sischen Wohnstil orientierte, nahm eine kritische Position gegenüber dem von den Seces-
sionisten angestrebten Gesamtkunstwerk ein.22 In seiner Schrift „Vom armen reichen
Mann“ schreibt er über den Bewohner und seine neu eingerichtete Wohnung sarkastisch:
„Bequem war die Wohnung, aber den Kopf strengte sie gar sehr an. Der Architekt über-
wachte daher in den ersten Wochen das Wohnen, damit sich kein Fehler einschleiche.
Der reiche Mann gab sich alle Mühe. Aber es geschah doch, daß er ein Buch aus der
Hand legte und es im Gedanken in jenes Fach schob, das für die Zeitungen angefertigt
war.“23 Loos vertrat die Ansicht, dass neue Formen aus der Realität des Alltags entstehen
müssten. Funktionstüchtige, zeitgemäße Gebrauchsgegenstände sah er nicht in der bis-
her üblichen Weise durch das Zeichnen von Entwürfen verwirklicht, sondern ausgehend
vom Material in der Werkstatt wie es in Großbritannien bereits praktiziert wurde.24
Obwohl 1903 Josef Hoffmann, Koloman Moser und der Industrielle Fritz Waern-
dorfer (1868–1939) die Wiener Werkstätte nach dem Vorbild der von Charles Robert
Ashbee (1863–1942) 1888 in Großbritannien eingerichteten „Guild of Handicraft“
gründeten, ging dort die Gestaltung nicht von der Werkstattarbeit aus, sondern vom
zeichnerischen Entwurf. Im Unterschied zum Bauhaus war also der Handwerker noch
nicht schöpferisch gleichgestellt mit dem Entwerfer.25 Nach Meinung von Rainer Wick
besaßen jedoch die künstlerischen Direktoren der Wiener Werkstätte, Hoffmann und
19 Witt-Dörring 2015c, S. 102.
20 Witt-Dörring 2015a, S. 138.
21 Hoffmann 1901, S. 203.
22 Witt-Dörring 2015c, S. 102.
23 Opel 2010, S. 264.
24 Witt-Dörring 2015a, S. 138.
25 Witt-Dörring 1998, S. 22.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482