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Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 179
wohners zu erfüllen“42. Mit der Ablehnung eines allumfassenden gestalterischen Prinzips
knüpfte er damit an die theoretischen Ansichten von Adolf Loos an.43 Im Gegensatz zu
Frank entwarf Loos jedoch nur wenige Möbel selbst und griff zumeist auf bestehende
zurück. Josef Frank entwarf hingegen eine Vielzahl von Möbeln, Lampen, Wohnacces-
soires und Textilien, die über die 1925 gemeinsam mit Oskar Wlach und Walter So-
botka (1888–1972) gegründete Einrichtungsfirma Haus & Garten vertrieben wurden.44
Ursprünglich waren die frei im Raum beweglichen Möbel Franks im Zusammenhang
mit der Wiener Siedlerbewegung entstanden. Diese Entwürfe bildeten die Grundlage
für Haus & Garten, deren Käuferschicht allerdings aus einem gegensätzlichen Umfeld
stammte – der vermögenden Oberschicht.45 Die vereinheitlichenden Formvorstellun-
gen der Internationalen Moderne, wie auch des Bauhauses, lehnte Josef Frank ganz ent-
schieden ab: „Ein Streben, das wieder in Mode gekommen ist, allen Gegenständen eine
geometrisch-kubische Form aufzuzwingen, ist unmodern, da es neuerlich nur Einheit-
lichkeit zwischen Haus und Mobiliar bezweckt, welche nichts miteinander zu tun haben.
Das ist die Idee des alten Stileinrichtens, die Form ist wohl eine andere aber der Geist
ist derselbe.“46 Den Innenraum seines Hauses in der 1927 eröffneten Werkbundsiedlung
in Stuttgart-Weißenhof richtete er im Gegensatz zu seinen Kollegen wie Gropius, Le
Corbusier (1887–1965) oder Mart Stam (1899–1986) mit traditionellen Möbeln, bunt
gemusterten Kissen, Vorhängen und Teppichen ein.
Das Wachstum der Metropole Wien hatte bereits um 1900 zu einer erheblichen Woh-
nungsnot geführt, die sich nach dem Ersten Weltkrieg noch verschlimmerte.47 Der pri-
vate Wohnbau kam fast vollständig zum Erliegen, was dazu führte, dass die Bevölkerung
am Rande der Stadt Behelfsunterkünfte, sogenannte „Brettldörfer“, errichtete und von
der Gemeinde Wien die Bereitstellung von Bauland forderte. Unter der sozialdemokra-
tischen Regierung wurde daher Max Ermers als Siedlungsreferent mit dem Aufbau eines
Siedlungsamtes beauftragt. Hans Kampffmeyer (1876–1932) – wie Ermers ein Verfech-
ter der Gartenstadt – wurde 1920 Leiter dieses Siedlungsamtes. Durch die Gründung
des Österreichischen Verbandes für Siedlungs- und Kleingartenwesen (ÖVSK) und der
42 Josef Frank, Akzidentismus, 1958, in: Bojankin 2012, S. 376. Die praktische Umsetzung von Franks
Wohnraumgestaltungen widersprach jedoch hin und wieder seiner Forderung. Er hatte oftmals eine
genaue Vorstellung von der Positionierung der Möbel, die durch die Deckenbeleuchtung vorgege-
ben wurde. Außerdem verwendete er nicht ausschließlich leichte Möbel, sondern auch voluminöse
Sofas oder Ohrensessel, die seinem Wunsch nach einer behaglichen Wohnatmosphäre entsprachen.
Siehe dazu: Ott 2009a, S. 53.
43 Ott 2009a, S. 29.
44 Ott 2009b, S. 122.
45 Ott 2009b, S. 123.
46 Frank 1931, S. 64.
47 Haiko 1995, S. 25–26.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482