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„Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien
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Goethe und Philipp Otto Runge in den Unterricht am Bauhaus ein.321 Die von Hölzel
geforderte Notwendigkeit von Kontrastbeziehungen beim Einsatz von Farben wurde in
einigen Abwandlungen (Hell-Dunkel-, Kalt-Warm-, Komplementär-, Simultan-, Qua-
litäts- und Quantitätskontrast) in Ittens Unterricht aufgegriffen.322 In Utopia veröffent-
lichte Itten 1921 seine „Farbakkordik“ mithilfe einer zwölfteiligen „Farbenkugel“.323
Paul Klees 1921 eingerichteter Unterricht der Bildnerischen Formlehre war insbeson-
dere im Wintersemester 1922/1923 einer systematischen Farbenlehre gewidmet, wobei
er diese „aus der Pendelbewegung zwischen komplementären Farbpaaren“324 ableitete,
gleich dem musikalischen Prinzip der Polyphonie.325 Kann seine Farblehre auf bewe-
gungstheoretischer Grundlage als sein eigenständiger Beitrag verstanden werden, so be-
zog sie sich ebenfalls auf Goethe, Runge, Delacroix und Kandinskys Schrift „Über das
Geistige in der Kunst“.326 Kandinsky, der zwei Jahre später ans Bauhaus berufen wurde,
hatte seine Farbenphänomenologie aufbauend auf Goethes Farbenlehre entwickelt. Er
stellte Farbe und Klang in Zusammenhang und setzte dies in seinen Farbopern wie Der
gelbe Klang als synästhetisches Projekt um, wobei er später im Gegensatz zu Goethe den
Farben auch bestimmte Formen zuordnete.327
Entscheidend war die Farbe insbesondere in der Werkstatt für Wandmalerei, die zu-
nächst Itten – wenig später zusammen mit Oskar Schlemmer – leitete. 1920 wurden un-
ter Itten als erstes Projekt die Korridore im Bauhausgebäude in Weimar ausgemalt. Die
bunte und kontrastreiche Farbwahl wurde in der Berliner Zeitung Tägliche Rundschau
kritisch als „Farbenterror“328 kommentiert. Bei der nicht mehr erhaltenen Wandmalerei
kamen offenbar hellere Farben und keine komplementären Kontraste zum Einsatz, wie
Itten sie eigentlich in seiner Farblehre postulierte.329 Ittens eigene abstrakte Bilder waren
dagegen von starker Farbigkeit geprägt, die aus seinen Überlegungen zur „Totalität der
Farben“ resultierte: „Gelb, Rot und Blau können als die Totalität aller Farben gesetzt
werden. Das Auge fordert, um befriedet zu sein, diese Totalität, es befindet sich dann im
harmonischen Gleichgewicht.“330 1917, also in der Zeit, als er seine private Kunstschule
in Wien betrieb, hielt er bereits zur Farbenharmonie in seinem Tagebuch fest: „Nur das
Nebeneinander aller Farben erzeugt Harmonie. Denn das Auge sucht das Helle wie das
321 Düchting 1996, S. 13–15.
322 Düchting 1996, S. 23; Schimma 2009, S. 257.
323 Dittmann 2003, S. 185.
324 Stasny 1994, S. 178.
325 Schimma 2009, S. 258.
326 Stasny 1994, S. 181–182.
327 Schimma 2009, S. 258.
328 Tägliche Rundschau, 2.12.1920. Zitiert nach: Düchting 1996, S. 112.
329 Düchting 1996, S. 111.
330 Itten 1961, S. 22.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482