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„Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien
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Im Gegensatz zur künstlerischen Wandgestaltung im Meisterhaus Kandinsky-Klee
fungierte die farbige Differenzierung im Bauhausgebäude in Weimar und im 1926 er-
richteten Schulgebäude des Bauhauses in Dessau als Orientierungssystem (Abb. 303).351
Dieses funktionsbezogene Farb-Konzept ist verwandt mit dem von Dicker und Singer,
da sie ebenfalls verschiedene Nutzungsbereiche durch unterschiedliche Farben kenntlich
machten. Auf der Zeichnung für das Wohn- und Speisezimmer für Alice und Hugo Mol-
ler aus dem Jahr 1925/1926 sind die verschiedenen Raumbereiche durch unterschiedlich
farbige Bodenelemente gekennzeichnet und die Möbel damit fixen Standorten zugewie-
sen. Der Essbereich ist am Boden durch ein rotes Feld markiert, das von einem hell-
grauen U – die Bewegungszone kennzeichnend – umschlossen wird. Den äußeren Rand
des Raumes umläuft wiederum ein Band in dunklerem Grau. Dickers und Singers Farb-
gestaltungen gingen jedoch über die Funktionszuweisung hinaus, was die Kombinierung
verschiedener Farbfelder innerhalb einer Wand- oder Bodenfläche verdeutlicht.352 Auf der
Entwurfszeichnung für das kompakte, nur acht Quadratmeter große Speise- und Wohn-
zimmer Hunger sind insgesamt sechs verschiedene Wand- und Deckenfarben sowie drei
verschiedene Farbtöne für den Boden vorgesehen.353 Die zu erahnenden Farbfelder auf
der Schwarz-Weiß-Fotografie des Zimmers lassen vermuten, dass diesem Farbkonzept
gefolgt wurde, und auch Gisela Urban hebt in einem Zeitschriftenartikel die besondere
Farbauswahl dieses Zimmers hervor: „die Schönheit erblüht aus der kühnen Farbigkeit,
die das Auge gefangen nimmt und [...] das Vorurteil gegen Raumkleinheit vergessen läßt.
Die Farbigkeit leuchtet von den Wänden, die, in Flächen geteilt, [...] den Raum zu einer
Einheit zusammenfaßt.“354
Die aufwändigen Farbkonzepte veranschaulichen Dickers und Singers starken Bezug
zur abstrakten Kunst, der sowohl van Doesburgs Überzeugung der „malerische[n] Kom-
positionen des dreidimensionalen Raumes“355, wie sie beispielsweise in Gerrit Rietvelds
Haus für Truus Schröder-Schräder in Utrecht realisiert wurde, als auch Kandinskys Vor-
351 Siebenbrodt 2009b, S. 139; Vgl. BHA, Architektursammlung, Hinnerk Scheper, Farbiger Orien-
tierungsplan des Bauhauses Dessau, 1926. Im aufgeklebten maschinegeschriebenen Textfeld heißt
es dazu von Scheper: „Farbiger Orientierungsplan des Bauhauses Dessau deutet die von seinen ver-
schiedenen Funktionen bedingte Ordnung des Gebäudekomplexes durch die Farbe an. [...] Bei der
Gestaltung des Innenraumes werden tragende und füllende Flächen unterschieden und dadurch
dessen architektonische Spannung zu klarem Ausdruck gebracht.“
352 Auch Adolf Loos verwendete Farben, um die Struktur von Räumen zu betonen. Die Verwendung
von Farbe bei Loos ist jedoch bisher wenig erforscht. Vgl. Maldoner 2008, S. 23–30.
353 Siehe: BHA, Architektursammlung, Franz Singer Inv.-Nr. 2019/22. Die Malerarbeiten wurden
durchwegs vom Wiener Maler Felix Giuliani ausgeführt. Die Böden waren zumeist mit unterschied-
lich farbigem Linoleum ausgelegt.
354 Urban 1930, S. 179.
355 Doesburg 1922, S. 33–41.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482