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„Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien
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würden, diese „für einen Einzelzweck dem ständigen Gebrauch zu entziehen“401 heißt es
in Franz Singers publiziertem Text „Das moderne Wohnprinzip“402.
Dieses Konzept eines mehreren Nutzungsansprüchen gerecht werdenden Wohnraums
verbreitete sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgehend von Amerika und Großbri-
tannien. Insbesondere Frank Lloyd Wright ist als Vorreiter dieser flexiblen Wohnräume
anzusehen. In Sigfried Giedions Buch Raum, Zeit, Architektur heißt es über Wright: „Er
arbeitete fundamental, so weit wie möglich, nahm das Haus als einen einzigen Raum.
Der Innenraum wurde nur entsprechend besonderen Notwendigkeiten differenziert. [...]
Um 1910 hatte Wright eine bis dahin unvorstellbare Flexibilität des freien Grundrisses
erreicht. Damals waren in anderen Ländern der freie Grundriß und das flexibel gestaltete
Innere und Äußere noch nahezu unbekannt. Wrights flexible Behandlung des Innenrau-
mes war vielleicht sein größter Dienst, den er der heutigen Architektur erwies. Sie brachte
Leben, Bewegung und Freiheit in den versteiften Körper der damaligen Architektur.“403
Inspirierend für die Unterteilung des Wohnraums in verschiedene Nutzungsbereiche war
darüber hinaus auch die aus englischen Landhäusern bekannte „Wohnhalle“, deren Ver-
wendung durch die 1904 und 1906 erschienenen Publikationen Das englische Haus von
Hermann Muthesius sowie Houses and Gardens von Mackay Hugh Baillie Scott angeregt
wurde.404
Frühe Beispiele für die Konzeption einer Wohnhalle in Wien wurden beispielsweise
im von Adolf Loos geplanten Wohnzimmer im Haus Steiner in Wien-Hietzing (1910)
sowie im von Josef Frank gestalteten Wohnzimmer im Haus Bunzl in Ortmann bei Per-
nitz in Niederösterreich (1914) realisiert (Abb. 339–340).405 Die Einteilung in einzelne
abgetrennte Zimmer, wie Speise-, Wohn- und Musikzimmer, wurde aufgegeben und
Aufteilungen in verschiedene Zimmerbereiche erfolgten beispielsweise durch Vorhänge.
Die Auflösung einer funktionsbedingten Einteilung von Zimmern und die Zusam-
menlegung bisher räumlich separierter Wohnfunktionen war infolge der angespannten
Wohnungssituation nach dem Ersten Weltkrieg in Wien jedoch auch ein Mittel, um
Wohnraum einzusparen.406 In dem „Musterzimmer mit Kochnische“, das 1927 in Franz
Schusters Publikation Eine eingerichtete Kleinstwohnung407 abgebildet war, sind die Berei-
che Wohnen, Essen, Kochen und Schlafen in einem Raum vereint. Nur mithilfe eines
Vorhangs konnte die Küche vom Wohnraum separiert werden (Abb. 341).
401 Kölner Tageblatt 1931.
402 Kölner Tageblatt 1931.
403 Giedion 2015, S. 262–263.
404 Ottillinger 2009, S. 21–22.
405 Ottillinger 2009, S. 20–21.
406 Witt-Dörring 1980, S. 35.
407 Schuster 1927.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482