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„Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien
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1928 präsentierten „Einwohnraum“ waren Schlaf-, Speise- und Wohnbereich innerhalb
eines Raums kombiniert (Abb. 342–343).408 Der Architekt Ernst Plischke setzte sich
ebenfalls mit der optimalen Raumausnutzung auseinander und zeigte auf der Ausstellung
„Der gute billige Gegenstand“ 1931/32 eine Einraumwohnung mit Kochnische und Bad
(Abb. 344).409 1928 richtete er für die Keramikerin Lucie Rie und ihren Ehemann Hans
Rie eine kleine Zweizimmerwohnung mit Diele in der Wollzeile 24 ein (Abb. 345). Aus
seiner Beschreibung geht ebenso die Abkehr von der funktionalen Festlegung der Zim-
mer hervor: „Es war eine kleine Wohnung, und ich habe versucht, durch eine gewisse
Gleichförmigkeit der drei Räume eine größere, offene Wohneinheit zu erreichen, also die
Unterteilung Wohndiele, Wohnraum und Wohnschlafraum formal und damit wirklich
zu überwinden. [...] Dadurch bleibt der Raum selbst leer und neutral, ein Wohnraum
ohne eindeutige Bestimmung.“410 Der ruhige, einheitliche Charakter der Wohnung
wurde durch Einbauschränke erzielt, die ein Aufstellen von zusätzlichen Schränken über-
flüssig machten. Helle Vorhänge zum Abteilen der Funktionen unterstützten die Luftig-
keit der Räume.411 Plischke bezog sich hiermit auf ein Konzept von Loos, der die Auf-
fassung vertrat, dass dem Architekten die Konzeption von eingebautem Mobiliar obliege
und dieses mit flexiblen mobilen Einrichtungsgegenständen zu kombinieren sei: „Die
Herstellung der mobilen Möbel überlasse man dem Tischler und dem Tapezierer. [...]
Aber die Wände gehören dem Architekten. Hier kann er frei schalten. Und zu den Wän-
den die Möbel, die nicht mobil sind. Sie dürfen nicht als Möbel wirken. Sie sind Teile
der Wand und führen nicht das Eigenleben der unmodernen Prunkschränke.“412 Wie aus
dem zweiten Band der Reihe „Haus und Raum. Ratgeber für Bauen und Wohnen“413
hervorgeht, in dem auch die Wohnung Rie aufgenommen war, wurden diese Wiener
Wohnraumgestaltungen besonders geschätzt: „Die Wiener Architekten bieten uns be-
sonders gute Beispiele für die Umwandlung alter Mietwohnungen in Wohnräume, die
408 Innendekoration 1926, S. 307–308; Ankwicz-Kleehoven 1929, S. 3–9.
409 Ottillinger 2003b, S. 110.
410 Zitiert nach: Leitner 2003, S. 28.
411 Mit dem Einsatz der Wandschränke und den Raum abtrennenden Vorhängen stand Plischke in der
Tradition von Adolf Loos. Dieser war nämlich der Auffassung, dass die Gestaltung der Wände in
einer Wohnung dem Architekten überlassen werden sollten. Siehe: Ottillinger 2009, S. 20–21. Und
doch gelingt es Plischke mit der Wohnung Rie, so Ottillinger, „aufbauend auf den Wohnvorstellun-
gen von Loos, Frank und Strnad und mit einem interessierten Blick auf die internationale Moderne
[...] eine eigenständige Position als Innenarchitekt und Möbeldesigner“ einzunehmen. Siehe: Ottil-
linger 2003b, S. 104–105, 111.
412 Adolf Loos, Die Einrichtung der modernen Wohnung (Die Abschaffung der Möbel), 1924, in: Opel
2010, S. 594-595.
413 Hoffmann 1934, S. 28.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482