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„Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien
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spruch gerecht werden wollte modern zu sein, eigentlich aber das jüdisch-intellektuelle
Milieu ablehnte und christlich-national ausgerichtet war.552 Dennoch wurde dieser Bau
unter dem Stichwort „Modernes Wohnen“ mit Wohnungseinrichtungen anderer öster-
reichischer Architekten wie Ernst Plischke, Jaques Groag und Josef Hoffmann vorgestellt.
Über das Gästehaus heißt es: „Alles in diesem Hause deutet auf eine heitere Leichtigkeit
des Daseins, auf Entspannung und Erholung. Die Terrasse ist moderner Wohnraum im
Freien. Man kampiert am Boden, variable, zusammenbaubare Liegepolster schaffen die
ideale Möglichkeit dazu. – Dieses ‚Gästehaus‘ zeigt, wie der moderne Architekt auch mit
so entlegenen Steigerungen des modernen Wohnbedürfnisses Schritt zu halten und eine
so seltene Aufgabe in scharmanten [sic!] Formen zu lösen vermag.“553
Singer, der mit Auersperg-Hériot, die sich während der Bauarbeiten offenbar zumeist
in der Heimatstadt ihres Ehemannes in Paris aufhielt, über den Fortgang des Baupro-
jekts korrespondierte, stand auch nach Abschluss der Bauarbeiten mit ihr in Verbin-
dung. Nachdem Auguste-Olympe Hériot in eine Klinik eingewiesen worden war und
offenblieb, ob er nach Wien zurückkehren würde, schrieb Hildegard Auersperg-Hériot
in einem undatierten Brief an Singer: „Abgesehen von alledem werde ich bis zu meinem
Heimkommen hoffentlich über die Art meines weiteren Lebens etwas klarer sehen; es
handelt sich dabei um die Frage ob Auguste überhaupt oder zeitweise aus der Anstalt he-
rauskommt & Sie können sich denken, daß ich mein Leben – wenn ich in diesem Haus
ohne ihn bleiben soll – anders einrichten möchte als die vergangenen, für seine Zerstreu-
ung auf Geselligkeit & Blödeln & 10% Snobismus aufgebauten Zeiten. [...] Auguste [...]
sagt, daß er sehr krank ist & nie mehr gesund wird & ist wie immer undurchsichtig.“554
Offenbar nutzte Hildegard von Auersperg-Hériot das Gästehaus ab etwa September
1934 für sich selbst. Umänderungen, von denen Leopoldine Schrom an Singer berichtet,
legen dies nahe: „Für Gräfin Hériot Bank kalkuliert: Sie wohnt im Gästehaus im WR.
I, will [für] den WR. II mehr Platz mehr Sitzgelegenheiten. Haben Ihr vorgeschlagen
und skizziert statt der Podiumstufen eine (etwas geneigte) Bank mit den für die Terrasse
bestimmten Rosshaarpolstern aufgelegt.“555 Ob Auguste-Olympe Hériot jemals zurück-
kehrte, bleibt ungewiss. Ab 1937 ist er jedenfalls nicht mehr im Wiener Adressbuch ver-
zeichnet. Viel länger wurde das Haus auch von Hildegard Auersperg-Hériot nicht mehr
genutzt, denn 1938 ließ sie sich von Auguste-Olympe Hériot scheiden und verließ Ös-
terreich. 1946 heiratete sie Louis Rothschild in den USA. Somit blieben das Wohnhaus
552 Lasinger 1994, S. 62.
553 Die Pause 1936, S. 38–39.
554 AGS, Brief Hildegard Auersperg-Hériot an Franz Singer, 28.5. (o. J.).
555 AGS, Brief Leopoldine Schrom an Franz Singer, 29.9.1934.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482