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Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 413
Bestandteil des gehobenen Konsums blieben und damit ihre Ambivalenz aufzeigten.571
In einem intellektuellen, politisch links orientierten Milieu wurde es modisch, sich von
der Ateliergemeinschaft eine Wohnung einrichten zu lassen. Insbesondere die luxuriöse
Ausstattung des Gästehauses Auersperg-Hériot spiegelt wider, dass die AuftraggeberIn-
nen ihre „Gäste nicht nur beherbergen, sondern auch mit dem Zeitgeist unterhalten“572
wollten. Ernst Kallais Vorwurf dem Bauhaus gegenüber, eine regelrechte „Objektäs-
thetik“ zu betreiben, kann auch für die Entwürfe der Ateliergemeinschaft beobachtet
werden.573 Der Auftraggeber Paul Wengraf entlarvte die Diskrepanz von Anspruch und
tatsächlicher Auftraggeberschaft besonders drastisch, indem er zu einer für ihn ausge-
führten Farbraumgestaltung – die er als „Raumkunst“574 bezeichnet – an Franz Singer
zurückmeldete: „Um es kurz zu sagen: wer an den Kollektivismus als an die zukünftige
Lebensform glaubt, muss so individualistische Äusserungen wie Ihr Zimmer ablehnen.
[...] In Russland würde man heute sagen, dass das eine konterrevolutionäre, hochverrä-
terische Denkweise ist, dass Sie nach Sibirien zu verschicken sind! [...] es kann sich der
soziale und kulturelle Aufstieg der Massen doch nicht im Handwerkstempo vollziehen,
die Kultur und Schönheitsbelieferung der Massen durch Handwerk widerspricht absolut
den wirtschaftlichen Möglichkeiten und auch den Anforderungen der zu wünschenden
Entwicklung. Lauter Handwerker mit handwerklicher Treue und erzogenem Geschmack
für lauter Handwerker arbeitend... da haben wir das Mittelalter, eine Welt von Zünften
und Innungen. Ihre individualistische Raumkunst ist gegen die Maschine gerichtet, ge-
gen die Zivilisation, daher gegen die nur durch die Zivilisation zu verwirklichende soziale
Bewegung, ja sie ist sogar wirklich konterrevolutionär, weil sie den Aristokratismus, der
aller individualen Kunst zugrundeliegt, auch auf die kleineren Künste erweitert.“575 Für
sich selbst empfand Wengraf, der sich als „sehr individualistische“ Person aus „klein-
bürgerlichem Milieu“ mit „intellektuell-ästhetisch-humanistischer Bildung“ beschreibt,
diese „Raumkunst“ jedoch als durchaus geeignet.576
Bei anderen AuftraggeberInnen deuten sich allerdings Kritikpunkte an, zu denen
Ella Reiner-Lingens meinte, dass diese sich „erst bei längerer Benützung der Wohnung
herausgestellt“577 hätten. Und Hans Heller, der insgesamt drei Wohnraumgestaltungen
im Zeitraum 1927 bis 1931 in Auftrag gegeben hatte, empfand die Benutzerfreundlich-
keit der Wohnungen als diskussionswürdig. 1934 schrieb er an Franz Singer: „Wun-
dern Sie sich bitte nicht, wenn Sie nächstens einen Brief von mir bekommen, den der
571 Bittner 2003, S. 35.
572 Achleitner 1988, S. 6.
573 Bittner 2003, S. 33.
574 AGS, Brief Paul Wengraf an Franz Singer, 13.3.1929.
575 AGS, Brief Paul Wengraf an Franz Singer, 13.3.1929.
576 AGS, Brief Paul Wengraf an Franz Singer, 13.3.1929.
577 AGS, Brief Ella Reiner-Lingens an Franz Singer, 6.2.1932.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482