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421Resümee
und Ausblick
Nutzung und Gestaltung des Wohnraums miteinbezogen. Auf dem Weg einer taktilen
Erfahrungsebene wurden demzufolge elementaristische und kinetische Aspekte der mo-
dernen Kunst in die angewandten Bereiche übertragen, womit sich ebenso die Forderung
aus Ittens Utopia, das „Kunstwerk“ zu erleben, erfüllt. Die proklamierte Funktionalität
wurde so zu einem ästhetischen Merkmal, das größeres Gewicht einnahm als der prak-
tische Nutzen. Im Unterschied zu anderen MöbelentwerferInnen des Bauhauses lässt
sich feststellen, dass sich in der Variabilität vielmehr eine spielerische Umgangsweise mit
Funktionalität offenbart, die an Entwürfe von Eileen Gray erinnert.
In Bezug auf die Herstellung ist zu verzeichnen, dass in Wien zumeist kleinere Hand-
werksbetriebe und Tischlereien für die Ausführung der Möbel herangezogen wurden.
Hierzu gehörte für Holzmöbel die von Alexander Hartmann gegründete Möbelfabrik
Prof. Hartmann & Co, für Stahlrohrmöbel Josef Anton Talos und Walter Gowal sowie als
einziger größerer Hersteller Josef & Leopold Quittner. Ab 1935 begann eine Zusammen-
arbeit mit der niederländischen Firma Metz & Co, die aber letztendlich nur zwei Tische
in ihr Sortiment aufnahm. In London konnte Franz Singer für eine Probeproduktion
seiner Sperrholzmöbel den aus Wien stammenden Tischler Paul Ostersetzer und als Ver-
triebspartner für seine Kindermöbel und -spiele das Warenhaus Peter Jones, E. S. Andrews
und die Spielzeugfirma Abbatt Ltd. gewinnen. Aufgrund einer aufschlussreichen Passage
aus einem Brief von Singer ist deutlich geworden, dass er sich aus Sorge vor schlechter
Qualität davor scheute, Lizenzen an größere Hersteller auszugeben.
Für die Leuchten, bei denen als Leuchtmittel vor allem Soffitten eingesetzt wurden,
zeigen sich sowohl Übereinstimmungen zu Entwürfen des Bauhauses als auch zu Gerrit
Rietvelds Leuchtkörpern. Ausgeführt wurden diese von der Wiener Firma Erzgießerei,
Bronze- und Metallwarenfabrik AG, die sich 1931 in J. T. Kalmar Metallwerkstätte umbe-
nannte. Kennzeichnend ist darüber hinaus der häufige Einsatz von Scherenarmleuchten
der Firma Midgard, einem Fabrikat, das auch am Bauhaus besonders geschätzt wurde.
Einzigartig erscheinen die speziell für die jeweiligen AuftraggeberInnen entworfenen
farbigen Kachelöfen, die wie große abstrakte Skulpturen wirken und von der Wiener
Öfen- und Tonwarenfabrik Eduard Fessler ausgeführt wurden.
Diese umfassende Gestaltung von Möbeln, Leuchten, Kachelöfen und die farbige
Fassung von Wänden, Decken und Böden, die Singer selbst als „Raumkomposition“
bezeichnete, offenbart den Wunsch nach einer umfassenden Raumgestaltung und knüpft
damit an die Forderung des Bauhaus-Gründungsmanifests an, künstlerische Prinzipien
auf Gebrauchsgegenstände bzw. den „Bau“ zu übertragen. Zugleich wird mit den Far-
braumkonzepten ebenso van Doesburgs Anspruch erfüllt, das traditionelle Tafelbild auf-
zugeben und in „Raumkunst“ zu überführen.
Diese Schlussfolgerungen bilden wiederum eine Brücke zum Bauhaus, dessen Wider-
sprüchlichkeit darin bestand, als Ziel die Schaffung von Gebrauchsgegenständen für die
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482