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70 Von der Tiroler Landeseinheit bis zum Tod Kaiser MaximiliansÂ
I. (1519)
Laus antistitis ;
Mythologie
Tiberinus,
Lamentationes An ein anderes Genus, die Heiligenvita, mag das Bestreben anknĂĽpfen, die im
Kern schon von der Ritualmordlegende an sich vorgegebene Sicht von Simons
Tod als imitatio Christi („Nachahmung Christi“) zu unterstreichen. Prato betont,
dass Simon wie Christus von Juden getötet wird, und zwar fast zum selben Zeit-
punkt, nämlich in der Nacht auf Karfreitag ; die Zeit bis zu seiner Entdeckung
am Sonntag entspricht den drei Tagen, die Christi Leichnam im Grab liegt. Die
Kreuzigungsposition während seines Martyriums, die Wunden an den Händen
und die Verdunkelung der Sonne haben ebenfalls offensichtliche Parallelen in der
Passion. DarĂĽber hinaus weisen die Juden selbst darauf hin, dass sie ihren Ritu-
almord als Wiederholung des Mordes an Christus verstehen (z.B. V. 273–274).
Diese Tendenz zur typologischen Deutung der Simonslegende wird sich bei Pratos
Nachfolgern fortsetzen. Hinsichtlich der narrativen Technik springt besonders das
BemĂĽhen ins Auge, die Geschehnisse chronologisch klar darzustellen und in den
zeitlichen Ablauf der Karwoche zu integrieren. Der zum Zeitpunkt der Abfassung
noch nicht abgeschlossene Prozess und die Bestrafung der Juden werden wie in
Tiberinus’ Brief ganz summarisch berichtet.
Kompensiert wird diese Knappheit durch die zweite, kĂĽrzere Elegie, die Laus an-
tistitis („Lob des Bischofs“), die ganz Hinderbach als Richter und Rächer gewidmet
ist. Seine Bestrafung der Juden wird dabei mit den Taten des Herakles verglichen,
der mythische Übeltäter wie Cacus, Diomedes und Busiris besiegt und getötet hat.
Der groĂźe Aufwand an mythologischer Gelehrsamkeit, der hier zutage tritt, hebt
Prato generell von den folgenden Simondichtern ab, die diesbezĂĽglich eher spar-
sam sind. Auch in De immanitate wird etwa die Verdunkelung der Sonne mit den
Vorgängen während des Thyestesmahls verglichen, fliehen zu Beginn von Simons
Martyrium selbst die Erinyen und klagen die Eltern um ihren verschwundenen
Sohn wie Isis um den ermordeten Osiris (V. 157–158, 217–224, 325–326).
An Tiberinus’ 1476 gedruckte Hystoria completa („Vollständige Geschichte“,
s. hier S. 118–119) schließen sich neben dem schon erwähnten Sayt-Epigramm
auch die bereits am 2. 7. 1475 verfassten Lamentationes Beati Symonis („Klagen
über den Seligen Simon“) an, die Tiberinus unter dem Titel In Beatum Symonem
[…] epigramma („Epigramm […] auf den Seligen Simon“, vgl. Abb. 10) noch-
mals als Eröffnungsgedicht seines Sammeldrucks von 1482 (s.u.) verwendet und
die unter Angabe der Entstehungsumstände auch in der Einleitung zu Pusculus’
Symonis auftauchen. Es handelt sich um eine Elegie von 62 Versen, in der Simon
sein Martyrium erzählt, den Papst bittet, Hinderbach zu schützen, und zum Po-
grom gegen alle Juden aufruft. Indem Tiberinus den Knaben selbst als Sprecher
einführt, erreicht er einen höheren Grad an Unmittelbarkeit und scheinbarer Au-
thentizität, als ihn eine einfache Erzählung zu bieten vermöchte. Aemilianus Cim-
briacus wird die Technik später übernehmen.
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 1
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 602
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Ăśberblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593