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174 Von der Tiroler Landeseinheit bis zum Tod Kaiser Maximilians
I. (1519)
De visione Dei :
Entstehung Neben der Entwicklung des Werks aus De complementis theologicis gibt es auch
einen äußeren Anlass der Entstehung von De visione Dei. Cusanus hatte mit seinen
bisherigen Schriften eine Alternative zur scholastischen Universitätsphilosophie ge-
boten. Damit stieß er vielerorts auf Unverständnis und Ablehnung ; damit wurde
er aber auch für jene interessant, die nach neuen geistigen Orientierungen suchten.
Ein Beispiel hierfür sind die Mönche des reformwilligen Benediktinerklosters Te-
gernsee in Bayern. Cusanus stand besonders mit Abt Kaspar Aindorffer und Prior
Bernhard von Waging seit einiger Zeit in freundschaftlichem Briefkontakt. In der
Tegernseer Gemeinschaft wurde damals wie in vielen religiösen Zirkeln des 15. Jhs.,
ausgehend von Autoren wie Dionysios Areopagita, Hugo von Palma oder Johannes
Gerson, über das richtige Verständnis von Mystik diskutiert. Die Frage kreiste v.a.
um den strittigen Punkt, ob zur mystischen Erkenntnis Gottes nur das Gefühl oder
doch auch der Verstand nötig sei. Bernhard von Waging, selbst Verfasser mystischer
Werke, hatte in seinem 1451 geschriebenen Laudatorium doctae ignorantiae („Lob
der belehrten Unwissenheit“) Cusanus’ Ansätze zu einer Mystik gepriesen, die auf
dem Verstand aufbaut. In die folgende Kontroverse schalteten sich neben den Te-
gernseern u.a. der Melker Prior Johannes Schlitpacher für und der Aggsbacher Prior
Vinzenz gegen Cusanus ein (vgl. Baum/Senoner 1998). Auf die Bitte der Tegernseer
verfasste Cusanus schließlich De visione Dei und legte darin die Mystik mithilfe der
Koinzidenzlehre aus. Das bedeutete auch eine Entscheidung für den Intellekt als
notwendige (Vor-)Bedingung der Gotteserkenntnis. Das Werk sollte den Mönchen
einen einfachen Zugang zu dieser Auslegung und zu Cusanus’ eigener Philosophie
gewähren. Es wurde am 8. November 1453 in Brixen vollendet. Cusanus schickte
es Kaspar Aindorffer zusammen mit einem eicona dei (vgl. praef. 2,132) genannten
Bild, auf dem der Blick Gottes dem Betrachter überallhin zu folgen schien. Er
vergleicht dieses Bild mit einer Reihe berühmter Gemälde, die alle mit demselben
optischen ‚Trick‘ arbeiten, darunter auch die Darstellung eines Engels in der Hof-
burg von Brixen, der das Wappen der Kirche hält (praef. 2,9–10 : Brixinae in castro
angeli arma ecclesiae tenentis).
Von dem mitgeschickten Porträt geht das Werk aus. Cusanus leitet die Mönche an, das
Bild von verschiedenen Standpunkten aus zu betrachten und auf den immer mit ihnen
mitgehenden Blick Gottes zu achten. Er versteht das Bild als Gleichnis dafür, dass Gott
alles sieht. Sehen ist Gottes Wesen. So wird auch das griechische Wort für Gott (theós), von
theoreîn („sehen“) abgeleitet (I,5,6). Dieses Sehen Gottes ist allerdings viel mehr als der
menschliche Sehsinn. Es steht metaphorisch für Gottes allumfassendes Sein und Wirken.
Das Sehen Gottes liegt vor allen verschiedenen Standpunkten. Es liegt hinter den Gegen-
sätzen. Deren Zusammenfall wird als eine Mauer gedacht, die man überwinden muss,
um zur Schau Gottes zu gelangen. Jedes denkende Wesen kann Gott erkennen, weil es
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 1
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 602
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Überblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593