Seite - 177 - in TYROLIS LATINA - Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
Bild der Seite - 177 -
Text der Seite - 177 -
Philosophie 177
De beryllo :
Entstehung
Inhalt, Aufbau
Cusanus’
Prinzipien
seines Forschens und Schreibens angibt. Die erholsame Zeit auf Schloss Andraz
nützte Cusanus im nächsten Jahr auch, um ein schon länger geplantes philosophi-
sches Werk niederzuschreiben.
Cusanus hatte 1453 De visione Dei als Erläuterungsschrift für die mit ihm be-
freundeten Tegernseer Mönche verfasst. Damit waren ihre Schwierigkeiten mit sei-
ner Philosophie aber noch nicht ausgeräumt. Sie baten um weitere Erläuterung,
insbesondere ĂĽber das Koinzidenzproblem. So wurde noch im Herbst 1453 De
beryllo („Über den Beryll“) konzipiert. Der Name der Schrift verdankt sich dem
bekannten Halbedelstein, der in geschliffener Form seit etwa 1300 als Sehhilfe ver-
wendet wurde und von dem auch unser Wort „Brille“ stammt. Cusanus wollte mit
De beryllo seine Leser auf eine geistige Brille hinweisen, durch die hindurch sie den
einen Gott sehen könnten. Diese Brille war nichts anderes als der Zusammenfall
der Gegensätze im menschlichen Intellekt, das Sehen der gemeinsamen Voraus-
setzung von sich widersprechenden Sätzen. Die Fertigstellung des Werks hat sich
allerdings um Jahre verzögert, wozu sicher auch die ständigen kirchenpolitischen
Konflikte beitrugen, in die Cusanus in jener Zeit verwickelt war. So fand er erst
nach seiner Flucht aus Brixen Zeit, das fĂĽnf Jahre vorher begonnene Werk abzu-
schlieĂźen. Es wurde laut der am Ende gegebenen Datierung am 18. August 1458
in Andraz vollendet.
De beryllo ist als Einleitung in die Philosophie von Cusanus angelegt. Er ver-
sucht, in Kürze vier Hauptsätze seines – seit De docta ignorantia in vielen Punkten
weiterentwickelten – Denkens anzusprechen und zu erläutern. Dies wird im Vor-
wort mit einem groĂźen Versprechen angekĂĽndigt : Das kleine BĂĽchlein lehre eine
universale Erkenntnismethode, die auf alle möglichen Forschungsbereiche über-
tragbar sei (1,13–14 : ad quaeque indaganda). Jeder könne diese Methode inner-
halb von wenigen Tagen lernen (2,10–11 : paucissimis diebus experieris). Der danach
einsetzende Hauptteil stellt zunächst kurz vier Hauptsätze der cusanischen Philo-
sophie auf (4–7) : 1. Der Weltgrund ist Einheit und Geist. 2. Was ist, ist Wahrheit
oder deren Ă„hnlichkeit. 3. Der Mensch ist das MaĂź aller Dinge. 4. Der Mensch
als zweiter Gott erschafft die Kultur- und Begriffswelt. Der ganze Rest der Schrift
besteht in der Erläuterung dieser Sätze. Die didaktische Gliederung gerät allerdings
im Lauf des Werks aus den Fugen. Cusanus selbst nennt es am Ende einen minus
bene digestus libellus (72,10 : „ein nicht so gut eingeteiltes Büchlein“). Man darf hier
vielleicht Spuren der Unruhe auf der Fluchtburg Andraz vermuten. Auch der Inhalt
hält sich nicht an das Konzept der Einführung. Cusanus lässt sich auf zahlreiche
Exkurse ein und setzt sich immer wieder mit der philosophischen Tradition ausein-
ander. Der Charakter einer Einleitungsschrift geht so vielfach verloren.
Alle vier Hauptsätze werden unter Rückgriff auf die Koinzidenzlehre erklärt,
die sich somit als Mittel zur Welterklärung bewähren soll. Dies im Einzelnen
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 1
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 602
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Ăśberblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593