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286 Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands
II. von Tirol (1595)
eine zweck-
entfremdete
Leichenrede
Sprache
Flosse für
Cristoforo : eine
Leichenrede
in absentia
Gattungskonven-
tionen befolgt Diese Zusammenfassung dürfte klar gemacht haben, dass die Rede das Genus der
oratio funebris geradezu pervertiert. Dies betrifft nicht etwa die Tatsache, dass sie
eine Frau preist – das war nicht unüblich (McManamon 1989, 113–114, Beispiele
249–292) –, sondern die Art, in der sie mit dieser Frau umgeht. Sie beschäftigt
sich keineswegs, wie man erwarten würde, lobend, klagend und tröstend mit ihr ;
vielmehr wird Eufemia ausschließlich über ihre Beziehung zur Familie Madruzzo
definiert und hat in struktureller Hinsicht nur rahmende Funktion. In Wirklichkeit
dient die Rede dazu, die Macht und Herrlichkeit der Madruzzo zu preisen und
insbesondere Cristoforo zu huldigen (der sich übrigens, da er in dem ihm gewidme-
ten Abschnitt immer wieder direkt angesprochen wird, wahrscheinlich unter den
Zuhörern befand).
Sprachlich fallen einige mittelalterliche Wendungen auf, die Mitte des 16. Jhs.
doch einigermaßen überraschen ; so verwendet der Redner etwa, um nur ein Bei-
spiel anzuführen, Bl. 5r unten quod im Sinne von konsekutivem ut.
Als Cristoforo Madruzzo selbst am 5. 7. 1578 das Zeitliche segnete, hielt der
flämische Jurist Valerien Flosse4 für ihn auf Betreiben seines Neffen, des Brixner Bi-
schofs Johannes VI. Thomas von Spor, im Brixner Dom eine Oratio funebris in exe-
quiis („Leichenrede bei den Begräbnisfeierlichkeiten“ ; vgl. Abb. 38) – und dies, ob-
wohl der Kardinal gar nicht in Brixen, sondern in Rom starb und bestattet wurde !
Solche Leichenreden in absentia sind eine Besonderheit der frühneuzeitlichen Trau-
errhetorik (Palme 1998, 176), die uns im Folgenden noch mehrfach begegnen wird.
Gedruckt wurde der Text mit einer Widmung an Cristoforos anderen Neffen und
Nachfolger in Trient, Lodovico, noch im selben Jahr bei Donat Fätz in Brixen.
Der Widmungsbrief (Bl. A2r) enthält nicht nur die eben genannten Informa-
tionen zur Entstehung der Rede, sondern stellt diese auch ausdrücklich in die
Tradition der römischen laudatio funebris („Totenlob“). Demgemäß lässt sie (Bl.
A3r–A6v)5 einen weit respektvolleren Umgang mit den Gattungsgesetzen erkennen
als das zuvor besprochene Beispiel : Nach dem Proömium (Beteuerung der eigenen
rhetorischen Unfähigkeit, Größe des Gegenstands, Trauer über den Tod des per-
sönlichen Schirmherren, captatio benevolentiae) gliedert sich die Rede sauber in drei
Teile. Der erste, das Lob Cristoforos, ist ungefähr wie eine Suetonvita strukturiert :
Auf die Nennung von Cristoforos Familie, des glänzenden Hauses Madruzzo, folgt
ein biographischer Abriss, der bis in seine letzte Zeit in Rom führt. Danach wer-
4 Näheres zu seiner Person weiß man nicht (Tovazzi, Nr. 839). Im selben Jahr wie die vorliegende
Rede erschien in Brixen eine weitere, die er in Rom auf den Tod Maximilians
II. gehalten zu haben
scheint.
5 Zwischen Widmungsbrief und Rede ist noch ein Epigramm eingefügt (Bl. A2v), in dem die bemer-
kenswerte Ansicht vertreten wird, Cristoforo wäre, hätte er länger gelebt, Papst geworden.
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 1
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 602
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Überblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593