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Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 59
prägend. So führte Itten in seine Lehre gymnastische Übungen zur Lockerung und Ein-
stimmung auf die anschließenden Rhythmusstudien ein, die Hölzel regelmäßig selbst
betrieb.191 „Bewegung und Rhythmus als existentielles Urprinzip und als grundlegendes
bildnerisches Organisationsprinzip“ waren so physisch unmittelbar erfahrbar.192 Zudem
übernahm er Hölzels Kontrastlehre, seine auf Goethe zurückgehende Farbenkontrast-
lehre und die Material-Studien.193 Itten ließ „Analysen“ nach alten Meistern anfertigen,
bei denen die Studierenden einerseits den konstruktiv-gesetzmäßigen Aufbau der Bilder
herausarbeiten sollten, um Fragen der Kontrastlehre und Bildkomposition nachzugehen.
Andererseits dienten die Bildanalysen auch einer „gefühlsmäßigen“ Auseinandersetzung
mit dem Kunstwerk.194 Auch bei der Beschäftigung mit den Grundformen Quadrat,
Dreieck und Kreis ging es um die symbolischen und qualitativen Werte der gegensätz-
lichen Formen, die sowohl auf Ittens Studium bei Hölzel als auch Eugène Gilliard zu-
rückzuführen sind.195 Zudem erneuerte Itten das Aktzeichnen, indem das Augenmerk
nicht auf anatomische Präzision, sondern auf „Ausdrucksform“ und „innere Bewegung“
gelegt wurde.196 Die aus dieser Zeit erhaltenen Studien Friedl Dickers und Franz Singers
verdeutlichen Ittens Unterrichtsübungen Aktzeichnen, Analyse alter Meister und Mate-
rialstudium.197
Dicker und Singer genossen bei Itten eine ganzheitliche ästhetische Erziehung, die
Körper und Geist gleichermaßen einbezog. Hierauf fußte auch Gertrud Grunows ab
1921 stattfindende „Harmonisierungslehre“, durch welche die Bauhaus-Idee einen
„betont anthropologisch-psychologischen Akzent“198 erhielt.199 Grunows „Harmonisie-
191 Wick 1994b, S. 136.
192 Ebd., S. 138. Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass im Rahmen der Vorlehre die Musikpä-
dagogin Gertrud Grunow ab 1921 einen „Harmonisierungskurs“ am Bauhaus leitete, der zunächst
in Kleingruppen und ab Wintersemester 1921/1922 als Einzelunterricht geführt wurde. Ihre Assis-
tentin Hildegard Heitmeyer kommentierte Grunows Unterricht wie folgt: „Sich durch innere Vor-
stellung ganz unter den Eindruck einer Farbe stellen, andererseits einen Ton ganz in uns aufzuneh-
men, bis er unser Eigen wird und in unserem Körper klingt, und sich davon bewegen lassen, ganz
frei, wie es der Körper verlangt, und wie er dann allmählich selber seine Ordnung findet, das ist das
Neue, was Gertrud Grunow bringt und wodurch sie sich von allen anderen Bewegungsmethoden
unterscheidet.“ Siehe: Steckner 1994, S. 202–204.
193 Wick 1994b, S. 134.
194 Ebd., S. 134, 148.
195 Ebd., S. 140–141.
196 Ebd., S. 147.
197 Unterrichtsstudien von Franz Singer und Friedl Dicker sind im BHA erhalten. Weitere Zeichnun-
gen Dickers befinden sich im UAKKA und in Privatbesitz. Fotografien aus dem BHA und dem
AAD/V&AM zeigen auch Materialstudien von Franz Singer. Siehe: BHA, Fotosammlung, Franz
Singer, Inv.-Nr. 7226/4, 7226/7, 7227/20.
198 Düchting 1996, S. 45.
199 Steckner 1994, S. 202–204.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482