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AuftraggeberInnen 145
Paul Stein war neben seiner Tätigkeit als Arzt Funktionär der „Sozialdemokratischen
Ärzte“ sowie Chefredakteur des medizinischen Teils der „Arbeiterzeitung“.128
Der Verleger Sigmund Rubinstein, ebenfalls ein Auftraggeber, publizierte 1921 sein
Buch Romantischer Sozialismus. Ein Versuch über die Idee der deutschen Revolution.129
Größtenteils waren die AuftraggeberInnen wie Dicker und Singer jüdisch. An den Ein-
trägen des Wiener Adressbuchs ist ihre Verfolgung nach dem „Anschluss“ von Österreich
1938 deutlich ablesbar. Häufig erscheinen die BewohnerInnen der Wohnungen oder
InhaberInnen der Geschäfte im Adressbuch ab 1938/1939 nicht mehr, da sie emigrierten
oder vom NS-Regime verfolgt wurden. Die Vermögensakten aus dem Österreichischen
Hauptstaatsarchiv – 1938 mussten Juden in Österreich ihre Besitztümer angeben – le-
gen Zeugnis über die Schicksale der AuftraggeberInnen ab. Zum Teil konnten sie noch
rechtzeitig flüchten und emigrierten vorwiegend nach Palästina und Großbritannien, in
die USA sowie nach Südamerika. Ihre Geschäfte mussten sie unter Wert verkaufen. Else
Fritz’ Modesalon wurde beispielsweise für 20.000 Reichsmark verkauft und „arisiert“.
Sie heiratete nach Schweden und konnte so dem NS-Regime entkommen.130 Auch der
Verlag des bereits 1932 verstorbenen Hans Epstein wurde „arisiert“.131
Das Vermögen von Rudolf Kriser, der Inhaber des Modesalons Lore Kriser & Co. war,
wurde 1941 beschlagnahmt.132 Er floh mit seiner Frau Dolly nach Südamerika, wo er
als Zeichner von Schnitten tätig war. Nach dem Krieg wurde er vom „Österreichischen
Hilfsfonds für politisch Verfolgte“ entschädigt.133
128 In einem Bericht über einen Kongress für Sexualreform wird Paul Steins fortschrittliche Haltung
deutlich: „Zahlreiche Redner sprachen auf dem Kongreß über die unseligen Wirkungen jener Se-
xualmoral, die die bürgerliche Gesellschaft als eine ‚Stütze der Gesellschaft‘ bewahrt wissen will, die
aber aus vielen Gründen viel sexuales Unheil verschuldet. [...] Diese Moral schädigt vor allem aber
die Frauen. Sie will den Frauen nicht zubilligen, was den Männern freisteht, sie will auch selbständig
arbeitenden, ehelosen Frauen ihre Freiheit nicht gönnen, sie verfemt noch immer die alleinstehende
Frau, die einen Liebesgefährten gefunden hat, und sie verfemt das uneheliche Kind und stellt es dem
ehelichen nicht gleich an Recht und Geltung.“. Siehe: Kongreßbericht, 11, 1930. Zitiert nach: Kat.
Ausst. Jüdisches Museum 2004, S. 169–170.
129 Sint 1988, S. 310.
130 Siehe: ÖStA/AdR E-uReang VVSt VA Buchstabe F 50055 Fritz, Else, 1.4.1887, 1938–1945 (Akt
(Sammelakt, Grundzl., Konvolut, Dossier, File)).
131 Hall 1985, S. 119–122.
132 ÖStA/AdR E-uReang VVSt VA Buchstabe K 39305 Kriser, Rudolf, 8.10.1885, 1938–1945 (Akt
(Sammelakt, Grundzl., Konvolut, Dossier, File)).
133 ÖStA/AdR E-uReang AHF K Kriser Rudolf Kriser, Rudolf, 08.10.1885, 1955–1962 (Akt (Samme-
lakt, Grundzl., Konvolut, Dossier, File)).
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482