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„Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien
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schaftsräume: das zum Garten ausgerichtete Zimmer für die Hausverwalterin „Fräulein
Marianne“513, das Zimmer der Köchin, drei „Mädchenzimmer“, ein Waschraum, ein Be-
reich für den Vogelkäfig, das Zimmer des Chauffeurs und die Garage. Eine Treppe führte
von hier ins Obergeschoss und zum neuen Keller mit einer Öl-Heizanlage (Abb. 392).514
Mit der Anordnung der Bedienstetenzimmer im Erdgeschoss und der Wohnräume im
Obergeschoss – gleich einer Beletage – folgte man adeligen und großbürgerlichen Tra-
ditionen.
Die Verwandlungsmöglichkeit und angelegte Raumökonomie der beiden Gästezim-
mer im Obergeschoss deutet jedoch die neuen Zielvorstellungen der Moderne an, da
diese Zimmer sowohl als Schlaf- als auch als Wohnzimmer genutzt werden konnten.
Zur Ausstattung gehörten diagonal zur Zimmerecke angeordnete Podeste, unter denen
jeweils ein Doppelbett mit Nachttischen hervorgedreht werden konnte (Abb. 403). Tags-
über fungierte die Rückseite der Betten als Treppe, um auf das Podest zu gelangen. Auf
diesem waren eine Couch, ein Tisch mit vier Auszugsplatten vom Typ Ti6, eingebaute
Schränke, Regale, ein Schreibtisch, eingebaute Sitzgelegenheiten sowie stapelbare Ti10-
Tische und S9-Stapelstühle angeordnet (Abb. 404). Durch die Glasfaltschiebetüren ge-
langten die Gäste auf die Terrasse. Letztendlich spiegelte hier die Verwandlungsfähigkeit
jedoch die „luxuriöse Mentalität und Exzentrik“515 der AuftraggeberInnen wider, anstatt
„Raumökonomie im Sinn von Sparsamkeit“516 zu verfolgen.
Den Gästezimmern war jeweils ein separates Vorzimmer vorgelagert, von dem auch
die Ankleidezimmer erreicht werden konnten. Letztere waren mit eingebauten Kleider-
schränken, einem Toilettentisch mit Seiten- und Rückspiegel, einem Drehstuhl, einer
klappbaren Liege, die als Sitz oder Massageliege verwendet werden konnte, sowie einer
Waschnische mit Waschbecken und Dusche ausgestattet. Der Drehstuhl bezieht sich
unverkennbar auf den Stuhl LC7 aus dem Jahr 1927 von Charlotte Perriand, wobei als
Singer’sches Charakteristikum die typische Überkreuzung im Fußbereich hinzugefügt
wurde (Abb. 208). Hildegard Auersperg-Hériot könnte auf Perriands Stuhl bei ihren
Aufenthalten in Paris aufmerksam geworden sein.517
513 Die Hausverwalterin Marianne wird öfter in der Korrespondenz zwischen Leopoldine Schrom und
Franz Singer erwähnt, da sie die Ansprechpartnerin für die AteliermitarbeiterInnen war, wenn Hil-
degard Auersperg-Hériot verreist war.
514 AGS, Brief Franz Singer an Hildegard Auersperg-Hériot, 14.2.1933. Der Bau einer Ölheizung
wurde im April 1933 genehmigt. Siehe: WStLA, M. Abt. 236, A16 - EZ - Reihe: Altbestand Bez.
1–9, 20: KG: Leopoldstadt, EZ: 1415, Bescheid vom 12.4.1933.
515 Maasberg/Prinz 2004, S. 77.
516 Nierhaus 2009, S. 517.
517 In einem Brief an Hildegard Auersperg-Hériot empfiehlt Singer Besichtigungen verschiedener
Bauten von Le Corbusier in Paris. Siehe: AGS, Brief Franz Singer an Hildegard Auersperg-Hériot,
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482