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539Das
Libretto als wichtigste Gattung
nichts an diesem Grundproblem. Jedoch können einige Merkmale zu einer besseren
funktionalen Definition der Textsorte herangezogen werden:
– die stringatezza, d.h. die durch Verdichtung des Stoffes erreichte Kürze des Tex-
tes auf ungefähr die Hälfte bis ein Drittel eines üblichen Dramentextes (vgl. Le
mariage de Figaro von Beaumarchais und Le nozze di Figaro von Da Ponte), was
angesichts der zeitaufwändigen Ausformung in der Musik eine Notwendigkeit
darstellt;
– die im 17. Jahrhundert vorherrschende Makrostruktur, die in der Regel aus einer
Haupthandlung mit diversen Nebenhandlungen besteht, welche die Grundsi-
tuation der Haupthandlung variieren und durch diese abwandelnde Exemplifi-
zierung durchaus die von den Aristoteles-Interpreten erhobene Forderung nach
Einheit der Handlung respektieren;
– eine formale Unterscheidung in Textabschnitte strophischer Natur (künftige
Arien) und nicht-strophischer Natur (künftige Rezitative), wobei sowohl in den
italienischen Originalen als auch in den deutschen Imitationen in den nicht-stro-
phischen Teilen ein unregelmäßiger Wechsel von Versen, bei strophischen Teilen
kunstvolle Anordnungen wesentlich heterogenerer Art zu finden sind;
– die besondere Sprachgestaltung dieser zur weiteren Verwendung bestimmten
Textsorte, welche die Bevorzugung spezifischer rhetorischer Mittel bedingt.
Die Textsorte Opernlibretto als ein Resultat der im Italien des 16. Jahrhunderts
initiierten Gattungsdiskussion um die Wiedergeburt der antiken Tragödie stellt
insofern eine spezifische Form der Mediatisierung von Literatur dar, als hier erst-
mals eine Textsorte vorliegt, die nicht nur aufgeführt, sondern ausdrücklich durch
Verknüpfung mit anderen Ausdrucksmitteln erst zur eigentlichen Bestimmung ge-
langt.
Die Libretti für den Wiener Hof beziehen sich in der Regel auf konkrete Anlässe:
Hochzeiten, Geburten, Geburts- und Namenstage, Faschings- und Sommerfeste,
festliche Aufzüge, sowie Todesfälle, Grabandachten und Sacre rappresentazioni,
welche sich in den spezifischen Untergattungen immer auch wechselseitig in ihrer
Entwicklung beeinflussen. In ihrer spezifischen Metrik gehen die Libretti aus der
italienischen Tradition der Madrigale und der Pastoralliteratur hervor, welche für
die Erzählpassagen (recitativo) die elfsilbigen Fließverse und für die expressiven Ab-
schnitte (aria) wesentlich heterogenere Techniken (z.B. den Wechsel von sieben-
und neunsilbigen Versen) in Strophenformen bevorzugen.
Als typische Formen können das historische Libretto, das auf geschichtlich-my-
thologischer Grundlage einen allegorisch-symbolischen Bezug zur Herrscherdynas-
Die italienische Literatur in Österreich
Von den Anfängen bis 1797, Band I
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die italienische Literatur in Österreich
- Untertitel
- Von den Anfängen bis 1797
- Band
- I
- Autor
- Alfred Noe
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78730-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 780
- Schlagwörter
- Italian Literature, Habsburg Monarchy, Libretto, Court Festivities
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- I. Der italienische Humanismus in Österreich 27
- II. Der Petrarkismus und die Akademiebewegung in Österreich 79
- II.1 Petrarkismus und protestantischer Adel 81
- II.2 Die Rezeption der Madrigalistik an den Höfen 87
- II.3 Barocke Akademien 92
- III. Die religiöse Literatur von der Gegenreformation zur katholischen Frühaufklärung 99
- III.1 Reformorden aus Italien und ihre Volksmissionen 101
- III.2 Die kontemplative Literatur für Laien 114
- III.3 Die katholische Frühaufklärung 127
- IV. Die italienische Improvisationskomödie 135
- V. Die literarische Selbstdarstellung des Kaiserhofes im Barock 199
- V.1 Die Bedeutung der Historiographie 208
- V.2 Die Funktion der kaiserlichen Hofdichter 214
- V.3 Geistliche Musikdramen und Oratorien 218
- V.4 Die Rezeption des italienischen Musiktheaters zu Beginn des 17. Jahrhunderts 263
- V.5 Serenaden, Kammerfeste und andere Kleinformen 274
- V.6 Ballette und Einleitungen zu Balletten 293
- V.7 Aufzüge und Rossballette 302
- V.8 Musikalische Feste 305
- V.9 Faschingsopern 314
- V.10 Opern zu Geburts- und Namenstagen im Kaiserhaus 334
- V.11 Opern zu Geburten im Kaiserhaus 369
- V.12 Hochzeitsopern 375
- VI. Die italienische Aufklärung in Österreich 385
- VII. Von der Spätaufklärung zur Frühromantik 490
- VIII. Die Verbreitung der italienischen Literatur 531
- IX. Verzeichnis der Drucke 549