Seite - 330 - in Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
Bild der Seite - 330 -
Text der Seite - 330 -
6 5 4 Achim von Arnim
Im Februar 1811 folgte das Verbot von Achim von Arnims romantischem, sich
über mehr als 400
Seiten erstreckenden Doppeldrama Halle und Jerusalem. Stu-
dentenspiel und Pilgerabentheuer (Heidelberg 1811). Als Beurteiler fungierte der
Baron Retzer, der unter anderem auch Kleists „Erdbeben in Chili“ zensiert hat-
te.236 Die Motive für das Verbot waren vergleichsweise mannigfaltig, letztlich
lassen sich die inkriminierten Äußerungen jedoch alle dem Bereich der Religi-
onskritik zuordnen. Retzer galt allgemein als sehr großzügiger Zensor.237 Wenn
es um den Schutz der Religion und Kritik an der Moral ihrer Funktionäre ging,
konnte man aber auch bei ihm nicht mit Toleranz rechnen. Über Arnims „Stu-
dentenspiel“ urteilte er:
Für das erste ist dieses Buch schon darum zu verbiethen, weil darin von Rosenkreut-
zern Erwähnung geschieht. Aber ausser diesem Umstand ist es ein Aggregat so unsin-
niger undecenter, und abgeschmackter Stellen, daß jeder Leser sich mit der Lectüre
dieser Schrift nur die Zeit verderben kann. Zum Beyspiele mag dienen S.
114 das alber-
ne Geschwätz des Juden Ahasverus, der den Glaubensgenossen Vorwürfe über ihren
Wankelmuth und ihren Geldgeiz macht, S.
151 die indecente Stelle, wo Celinde bekennt,
daß der Prediger Lyrer der sie in heiligem Glauben unterweisen sollte, mit Liebesthor-
heit berückt habe, und daß sie seiner Lust ganz ohne Lust diene; S. 154 die Stelle, wo
Cardenio dem Prediger sagt: Halt’s Maul du dummer Pfaffe, ich laß mich nicht von
deinen falschen Pfiffen blenden, kennst du Cardenio nicht besser, ich trage keinen
Nasenring, daß mich ein solcher schwarzer Affe könnte durch die Gasse ziehn etc.
S.
156 die freveliche Äusserung des Predigers: Ich bin ein Schüler Epikurs, ich weiß zu
sterben, und habe keine Scheu vor dem, was jenseits kommt, denn da ist nichts etc.238
Erwähnungen von Rosenkreuzern oder Tempelrittern waren verpönt, ähnlich
wie Hinweise auf Freimaurerei und andere Geheimbünde. Dem Bereich der
theologisch motivierten Verbote kann wohl auch die vermeintliche Verharmlo-
sung des Selbstmordes zugerechnet werden, der Schock des Werther-Fiebers
wirkte offenbar noch Jahrzehnte lang nach. Das Verhalten und die Aussagen des
Predigers Lyrer wie auch Cardenios Beschimpfungen bedurften aus der Sicht
des Zensors kaum eines Kommentars, es genügte, sie (frei) zu zitieren, um ein
Verbot zu rechtfertigen. Celinde bekennt ihrem Geliebten:
236 Vgl. S. 112.
237 Vgl. Ignaz Franz Castelli: Memoiren meines Lebens. Eine Auswahl veranstaltet von einer
Arbeitsgemeinschaft unter Leitung von Prof. Dr. Josef Lackner. Linz: Österreichischer Verlag
für Belletristik und Wissenschaft 1947, S. 161–162.
238 Allgemeines Verwaltungsarchiv, Polizeihofstelle, 97k/1811.
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
330 6. Fallstudien
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Titel
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Autor
- Norbert Bachleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 532
- Schlagwörter
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510