Page - 94 - in Reflexionen vor Reflexen - Memoiren eines Forschers
Image of the Page - 94 -
Text of the Page - 94 -
94 KAPITEL2. KINDHEIT
te verwickelt. Beispielsweise besaß er vorübergehend eine Häuserzeile in der Nürnberger
Marienstraßemutmaßlich aus vormals jüdischemBesitz.
1946 stürzte der Schwergewichtige auf der steilen Treppe in seinemHause und brach
sich dabei das Bein. In der gleichen Nacht knickte ein Sturm einen Baum auf dem Fa-
brikgelände ab. Meine abergläubische Tante Lisl meinte eine genaue Übereinstimmung
der Bruchstruktur auf demRöntgenbildmit der Bruchstruktur des gebrochenen Baums
erkennen zumüssen.Daßmir diesesDetail inErinnerung geblieben ist, könnte aufmeine
schon damals aufkeimende kritische Einschätzung der menschlichen Fähigkeiten zur ge-
nauen Beobachtung und vorurteilslosen Bewertung hindeuten.Was kann ein Beinbruch
mit einemBaumbruch gemein haben undweshalb sollte es da einen Zusammenhang ge-
ben?!
Andererseitswar dieserUnfall, der sichmutmaßlichunterAlkoholeinfluß ereignete und
zu einer längerenBettlägerigkeit zwang, derBeginn seiner letzten sechs Lebensjahre, die
von Alkoholismus und körperlichemAbbau geprägt waren. Auf demmarkantesten Bild
inmeinerErinnerung sehe ich ihn imdunkelbraunenLedersesselmithohenArmlehnen in
seinemWohnzimmer thronen, vorzugsweisemit einerKognakflasche inGriffweite. Selbst
gegenüber seinem damals erst einzigen (männlichen) Enkel vermittelte er einen herri-
schen Eindruck und nicht die Spur von großväterlicher Zuneigung. Entsprechend waren
auchmeine Gefühle für ihn sehr verhalten.Wenn er barfuß war, empfand ich bisweilen
sogar einGefühl derAbscheu vor seinen von starkemund chronischemEkzembefallenen
Füßen.Gleichwohl habe ichbzw. habenwir alle ihmviel anmateriellerUnterstützung zu
verdanken.Kein Sterblicher kann eswohl schaffen, alles zugleich zu geben.
Neben ihmwarmir indiesenJahrenals einzigerweitererGroßelternteil nurnochmeine
väterlicheGroßmutter geblieben.Nach demTode ihresMannes 1944 undder Zerstörung
desHauses in derComeniusstraße samt ihrerWohnungwar sie in denLohgartenweg 6 in
Roth gezogen, einem käuflich erworbenen oder gemieteten kleinenGartenhaus. Ich
kannmich nur an einen einzigen Besuch dort und an die altmodischenMöbel in ihrem
Wohnzimmer erinnern. Auchmit ihr gab es fürmich nachmeinemEmpfinden keine be-
sonders herzliche Verbindung.89 Sie war zu jener Zeit gesundheitlich angeschlagen, eher
wortkargundvielleicht auch etwas verbittert infolge der schicksalhaft erlittenenVerluste,
die sie bis kurz vorKriegsende noch einewohlhabendeFrau nachderWährungsre-
form1948 bis zu ihremTod 1954 an denRandwirtschaftlicherNot brachte.
89Meine Schwester lag ihrwohl näher, dennOmanannte sie ihr Goldele . Annelore hatte sie inRoth
auch regelmäßig anläßlich dortigerwöchentlicherKlavierstunden besucht.
Reflexionen vor Reflexen
Memoiren eines Forschers
- Title
- Reflexionen vor Reflexen
- Subtitle
- Memoiren eines Forschers
- Author
- L. Wolfgang Bibel
- Publisher
- Cuviller Verlag Göttingen
- Location
- Göttingen
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-SA 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 464
- Category
- Biographien
Table of contents
- Einleitung 1
- Vorfahren 11
- Kindheit 51
- Zielsuche 153
- Forscherleben 281
- Resümee 413
- Stichwort- und Namensverzeichnis 427