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2.3. DIEZEIT INGEORGENSGMÜND 99
Nördlich vom Fabrikgelände lag am Ufer der fränkischen Rezat ein Sportplatz. Von
unserem Haus konnte man dahin durch ein sehr schmalesWeglein zwischen derWest-
mauer der Fabrik und einemZaun gelangen, oder auch durch dasFabrikgelände unddas
nördlichgelegeneTor.AufdiesemGelände fandsomanchesSehenswerte für einenJungen
statt.BeispielsweisederJahrmarkt zurKirchweih.MeinaufregendstesErlebnis auf einem
solchenMarkt dort führtemich vor einen Stand unter anderemmitKrawatten, die nach
vornevonderThekedesStandesherunterhingen.Esmüßtemirdochgelingen, einedieser
Krawatten unbemerkt von der Verkäuferin herauszuziehen und verschwinden zu lassen!
UnddasExperimentgelangmitklopfendemHerzen.Stolz zeigte ichdasDiebesgutmeiner
Mutter, die mich sprachlos ansah. Dieb bin ich später dann doch auch nicht geworden.
Gleichwohlwar das fürmich eine tiefe und daher unvergesseneErfahrung.
Von unserem Haus Richtung Osten kam man durch die bereits erwähnte Unterfüh-
rung über einWiesengelände zur schwäbischenRezat, längs derman flußaufwärts schön
spazieren konnte. Dorthin ging ich eines Tages mit unserer Hala, für die ich eine Leine
mitführte. Diese konnte man wunderschön über demKopf schwingen und dann wie ein
Lasso loslassen.Verdammt! da landete siedabei einmaldirekt imFluß,unwiederbring-
lich für mich. AmWochenende, als mein Vater (mutmaßlich von seiner Lehrertätigkeit
in Mögeldorf) wieder zu Hause war, beichtete ich ihm den Verlust und erwartete eine
entsprechende Standpauke. Er aber nahm es ganz verständnisvoll auf, wofür ich ihn am
liebsten umarmt hätte. Er gingmitmir den gleichenWeg zu der Unglücksstelle, wowir
aber beide nur den endgültigenVerlust feststellen konnten undmußten.
Die beiden beschriebenen Reaktionenmeiner Eltern,Mutter wie Vater, sehe ich heu-
te als Indiz für deren reifen pädagogischen Instinkt, dem wir Kinder unendlich viel zu
verdanken haben. Vor allem traten sie unsKindern gegenüber trotz der kriegsbedingten
Jahre der familiären Zerrissenheit immer in harmonischer Übereinstimmung auf. Einen
fruchtbarerenBoden für eine ausgewogeneReifung kannman sichwohl kaumwünschen.
ImOktober 1947näherte sich infolgederFertigstellungdeswieder aufgebautenEltern-
hauses inMögeldorf das Ende unserer Evakuierungszeit in Georgensgmünd. Dies führte
beimir zudem folgendenherzzerreißendenZwiespalt.Denneinerseits freutenwir unsna-
türlich alle auf dieRückkehr in das vertraute Zuhause.Andererseits hatte ich inzwischen
eine richtige Freundschaft mit einem Jungen aus Petersgmünd geschlossen, mit dem ich
vorallemoftFußball spielte,wobeiTorwartmeineLieblingsrollewar.DiesenFreundwollte
ich eigentlich zumeinemneuntenGeburtstag einladen,wasaberdenUmzugsvorbereitun-
gen geopfert werden mußte. Der Umzug fand Anfang November statt. Meinen Freund
habe ich danach wohl nie mehr gesehen und irgendwann auch seinen Namen vergessen.
Reflexionen vor Reflexen
Memoiren eines Forschers
- Title
- Reflexionen vor Reflexen
- Subtitle
- Memoiren eines Forschers
- Author
- L. Wolfgang Bibel
- Publisher
- Cuviller Verlag Göttingen
- Location
- Göttingen
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-SA 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 464
- Category
- Biographien
Table of contents
- Einleitung 1
- Vorfahren 11
- Kindheit 51
- Zielsuche 153
- Forscherleben 281
- Resümee 413
- Stichwort- und Namensverzeichnis 427