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202 KAPITEL3. ZIELSUCHE
daßichmichglücklicherweisenichterinnernkann, inmeinemspäterenLebenjemalswieder
so betrunken gewesen zu sein.
Meine beiden Eltern waren immer sehr eigenständige Persönlichkeiten, die ich bereits
imAbschnitt 2.5.3 zu charakterisieren versuchte.DieGewichtung ihrer familiärenRollen
verlagerte sichaber imVerlauf der fünfziger Jahre zunehmend.MeinVatermachte inden
fünfziger und sechziger Jahren noch eine fulminante Karriere, von der im nächsten Ab-
schnitt berichtetwird.Entsprechendmußte er rein ausKapazitätsgründen seinenBeitrag
am familiären Leben reduzieren. Auchwenn ich natürlich keinen Einblick in das elterli-
che Intimlebenhabe, ist anzunehmen, daßdieseReduzierungauchAuswirkungenauf das
Eheleben zu Ungunsten meiner Mutter hatte. Dann verließ Annelore die Familie mehr
oderweniger für immer.Und schließlichwohnte ich zwar noch bis 1958 ganz unddanach
teilweise imHause,meine geistigeHeimat suchte ich aber definitiv anderswound zwar in
Regionen, diemeinerMutter völlig fremdwaren.AusdieserMixtur ergab sich imVerlauf
der fünfziger Jahre fürmeineMutter eine zunehmend schwierigere Situation inBezugauf
ihr eigenesRollenverständnis.
Die ehemalsangeseheneTochter einesFabrikbesitzers sahsich immermehr imSchatten
einesPolitikers,der regelmäßigmithöchstenPersönlichkeitenverkehrteundentsprechend
oft in der Tagespresse präsentwar. Diese außerordentlich tüchtige Frau, die einen hohen
Anteil an demAufbau eines beachtlichenWohlstands der Familie hatte und die den Fa-
milienhaushalt immer in vorbildlicherWeise in Schuß hielt, begann ander Sinnhaftigkeit
ihrerRolle zu zweifeln. Dennwaswar der Sinn ihres unermüdlichenEinsatzes, wenn der
Mann nur noch für kurze Nächte nach Hause kam und die beiden Kinder mehr oder
weniger aus demHause waren? ImHinblick auf diese Sinnhaftigkeit fehlte meinerMut-
ter eine neueAufgabenstellung, die ihrenFähigkeiten angemessen gewesenwäre. Sie hat
wohl in jenen Jahren nach einer neuen Zielsetzung gesucht und auchKontakte zu alten
Bekannten aufgefrischt. Da die selbst verordnete täglicheArbeitsbelastung aber denTag
durchaus noch ausfüllen konnte, waren ihreVersuchewohl eher halbherzig und in jedem
Fall erfolglos.
Zu dieser psychologisch prekären gesellschaftlichen Lage gesellte sich schließlich noch
der Eintritt in das Klimakterium (Wechseljahre), das sich bei meiner Mutter offenbar
nicht einfach gestaltete.77 Auch wenn darüber in meinem Beisein nicht geredet wurde,
waren die Veränderungen offensichtlich. Beispielsweise lag in der Küche nun immer eine
Schalemit schätzungsweise einemDutzendFläschchen,diewohlhomöopathischeTropfen
77Auchdie imAbschnitt1.2.2beschriebenepsychischeErkrankung ihrerMutter trat ineinemAlterein,
in dem dieWechseljahre einsetzen können. Die Parallelität der beidenKrankheitsverläufe ist jedenfalls
auffällig.
Reflexionen vor Reflexen
Memoiren eines Forschers
- Title
- Reflexionen vor Reflexen
- Subtitle
- Memoiren eines Forschers
- Author
- L. Wolfgang Bibel
- Publisher
- Cuviller Verlag Göttingen
- Location
- Göttingen
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-SA 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 464
- Category
- Biographien
Table of contents
- Einleitung 1
- Vorfahren 11
- Kindheit 51
- Zielsuche 153
- Forscherleben 281
- Resümee 413
- Stichwort- und Namensverzeichnis 427