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3.5. STUDIUM 227
inMathematik aus, wobei jeder von uns seinen angemessenenTeil beitrug. Diese konge-
nialeZusammenarbeit gestaltete sichzuvielleichtderbestendieserArt,die ich inmeinem
Leben erfahren durfte, auchwenn sie nur sehr kurz währen konnte. Eine besondere Rol-
le spielte bei dieser Arbeit das hervorragende Buch von R. Courant Vorlesungen über
Differential- und Integralrechnung .
UnsereDiskussionen ergaben sich neben den gegenseitigenBesuchen auch in ausgefal-
leren Situationen. Einmalmachten wir auf der Fahrt von Erlangen nachMögeldorf eine
Pauseundsetztenunsauf einenJägerstandunweitderStraße,umdortgeraumeZeit alles
Mögliche zu erörtern.OderGerdkamspät amAbend zumeinemZimmerundwir gingen
danngemeinsam inder nächtlichenDunkelheit imSchmausenbuckwalddiskutierend spa-
zieren.Erwarwie ich einSuchender, der sichmitder einmal getroffenenStudienwahlund
dem dargebotenen Stoff nicht letztgültig zufrieden geben konnte. Unsere Diskussionen
sprangen dahermeist schnell von den Studienthemen auf andere und vielfältige Themen
über.Er lehrtemich,meineSinneunvoreingenommenundbewußt einzusetzen.Beispiels-
weisewies er einmal auf das verkratzteBlechvormeinemKohlenofenunddessen interes-
sante Struktur hin. Niemand inmeinemUmfeld hätte irgendetwas dieser Art überhaupt
wahrgenommen.Oder er zeigtemir einenKatalogmit eleganter italienischerHerrenmode
und beschriebmir deren Besonderheiten. Ein andermal besuchten wir gemeinsam einen
Quartettabendmeines Geigenlehrers Horváth. Dabei machte er, der keinerlei Musikbil-
dung genossenhatte,mich auf strukturelle Ideen in derMozartschenMusik aufmerksam,
diemir vorher nie aufgefallenwaren oder irgendein Lehrer je erwähnt hätte. Er sah und
hörte einfachmehrundbettete es in einementsprechendwachsendenVorstellungsgeflecht
ein. So ergab es sich für ihn in ganz natürlicherWeise, daß er sehr bald an einemmögli-
chen Studienwechsel hin zu einemKunststudium arbeitete, den er dann auch in Angriff
nahmund zu einer außerordentlich erfolgreichenKarriere bis hin zumProfessor ausbau-
te.140Als solchermachte er sicheinenNamenalsbedeutenderTypografundtrugviel zum
wachsendenRuf des FachbereichsGestaltung der FachhochschuleBielefeld bei.141
Neben Gerd pflegte ich in jener Zeit solche Diskussionen über Gott und die Welt
vor allem auchmit demMieter im zweiten Stock unseres Hauses, Herrn Hagemeyer. Er
war ein hochgebildeterMann, der sich nachdemKrieg alsVertreter für diePharmafirma
Schaper und Brümmer verdingen mußte. Trotz seines hohen Bildungsniveaus, dem ich
unzähligeAnregungenundHinweise auf anregendeLiteraturverdanke,142warerpolitisch
140https://de.wikipedia.org/wiki/Gerd_Fleischmann, Zugriff 27.2.2016.
141http://www.fh-bielefeld.de/, Zugriff 14.3.2016.
142Beispielsweise kam von ihm in seinem Schreiben vonDezember 1960 der Hinweis auf das Buch von
Pierre Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, Beck, München, 1959. Das Werk hat mich tief
beeindruckt, auchwenn ich nicht all seinenThesen folgen konnte.MitHagemeyers pflegte ich auchnach
Reflexionen vor Reflexen
Memoiren eines Forschers
- Title
- Reflexionen vor Reflexen
- Subtitle
- Memoiren eines Forschers
- Author
- L. Wolfgang Bibel
- Publisher
- Cuviller Verlag Göttingen
- Location
- Göttingen
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-SA 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 464
- Category
- Biographien
Table of contents
- Einleitung 1
- Vorfahren 11
- Kindheit 51
- Zielsuche 153
- Forscherleben 281
- Resümee 413
- Stichwort- und Namensverzeichnis 427