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248 KAPITEL3. ZIELSUCHE
überhaupt abschätzen zu können? In einem im AOKorrespondenz aufbewahrten Brief
versuchte ich, Ihr meine Reaktion zu erklären. So kommenmir heute noch darüber die
Tränen, daß ichmeineMutterwenigeWochenvor ihremTod sounerbittlich zurechtwies.
Dazu ist inmeinemTagebucheinMonate später verfaßter, tiefbedauernderSelbstvorwurf
zu finden.196
Auchheutenochbin ichmirdes zeitlichenZusammenhangsdieserVerstimmungmit ih-
rem schätzungsweise dreiMonate später erfolgten Suizid schmerzlich bewußt, auchwenn
hiervonSchuld imunmittelbarenSinnenichtwirklichdieRedeseinkann.DasSchuldemp-
findenvon jedemderHinterbliebenen ist jedochnach einemSuizidbekanntlichbesonders
hoch. In derTat ist es aus heutiger Sicht nicht auszuschließen, daß ein anderesVerhalten
derFamilienmitgliederdasLebenmeineransonstendurchausgesundenMutternochJahr-
zehnte hätte verlängern können. Dazu hättenwir damals abermehr über die Krankheit
Depression wissenmüssen, umunserVerhalten entsprechend auszurichten.Mangelndes
Wissen ist eine beliebte und sehr gängigemenschliche Ausrede, um sich von Schuld frei
zu sprechen. Es ist eine untaugliche und nicht entlastende Ausrede, wenn das erforder-
licheWissen nicht allzu schwer erlangt werden kann und nur die menschliche Trägheit
davon abhält. Entlastend kann ich, wie schon oben erwähnt, aus heutiger Sicht feststel-
len, daß dies in unserem Fall eindeutig nicht gegeben war: das erforderlicheWissen zu
dieser komplexenKrankheit war damals einfach nirgends verfügbar (und ist auch heute
nochvergleichsweise spärlichwennauchwesentlichumfangreicher als damals vorhanden).
DerVerlustvonEhefrauundMutter ist fürunsereFamilie sehr schmerzlichgewesen. In
einer solchenSituation ist eshilfreich,das täglicheLebenweiterzuführen. Ichkehrtedaher
sofort nach derBeerdigung nachHeidelberg zurück, umdas Semester dort abzuschließen
(undwarspäter imAprilnochmalsdort,ummeineGroßpraktikumsarbeit fertigzustellen).
IndenanschließendenSemesterferienverbrachtenmeinedamalsschwangereSchwester, ihr
Mann, Peter Lindner, und ich gemeinsam eine erhol- und heilsame Skiwoche inWolken-
stein imGrödnertal.Höhepunktwar zusammenmitPeter eineBesteigungaufSkiernund
mit Fellen des 3152mhohenPizBoè und die anschließende großartige Skiabfahrt.
Am letztenTagdesAufenthalts, bei der letztenSkiabfahrtmitPeter undbuchstäblich
beimletztenSchwung imTalnahmichdiesensoeng,daßdiedadurchextremangespannte
196 Siehatte ihn lieb, erwar ihrFleisch.SowollteSie seinSchaffenmiterleben,denneswarIhrSchaffen.
MiterlebenheißtMitwirken.Eraber dünkte sich groß, undhielt Sienicht für fähig,mitzuwirken; ermußte
umseinSchaffen bangen. So hieß er Sie aussteigen, Sie tat es, bitterweinend.Vonda anhat er Sie nicht
mehr lebend gesehen. Jetzt weine ich. TBI, S.12f; dort auch einweitererGedanke zur Selbsttötung.Die
zitierte Phrase hat er Sie nichtmehr lebend gesehen beruht entweder auf einer Erinnerungslücke oder
ist nicht wörtlich gemeint. Denn ich hatte sie jaWeihnachten 1961 imKrankenhaus noch besucht. Auf
S.175f inTBI findet sich noch einweiterer Eintrag zumeinemSchuldgefühl.
Reflexionen vor Reflexen
Memoiren eines Forschers
- Title
- Reflexionen vor Reflexen
- Subtitle
- Memoiren eines Forschers
- Author
- L. Wolfgang Bibel
- Publisher
- Cuviller Verlag Göttingen
- Location
- Göttingen
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-SA 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 464
- Category
- Biographien
Table of contents
- Einleitung 1
- Vorfahren 11
- Kindheit 51
- Zielsuche 153
- Forscherleben 281
- Resümee 413
- Stichwort- und Namensverzeichnis 427