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3.5. STUDIUM 259
Mein Bemühen erwies sich leider als völlig vergeblich. Denn imDezember 1965 über-
raschtemichmein Zimmerkollege,ManfredRistig,234mit der schockierendenMitteilung,
daß er zufällig eine von zweiAmerikanern erbrachte vollständigeLösungdesUmkehrpro-
blems in einer französischenZeitschrift gefundenhabe, die dort schonJahre vorher veröf-
fentlichtwordenwar.Niemand imUmkreis vonHeisenberg hatte bislangdavonKenntnis
erhalten, jedenfalls nichtMittelstaedt. Damit stand ich nach eineinhalb Jahren des Be-
mühens wieder völlig amAnfang. Auch für meinen Betreuer Mittelstaedt war das eine
für einenWissenschaftler ziemlichbeschädigendeBlamage.Erwolltemir daher auch sehr
raschmit einer entsprechendenErsatzthemenstellung aus der Patsche helfen. Beimeiner
danngetroffenenEntscheidung spieltenUmstände einewichtigeRolle, ohnederenKennt-
nis diese Entscheidung völlig unverständlichwäre, die ich daher vorweg nun beschreiben
möchte.
Die ersten Monate amMPI bestätigten die Richtigkeit meiner Wahl zugunsten die-
ser Institution. Bei in jederHinsicht exzellentenArbeitsbedingungen konnte ich an einer
anregendenwissenschaftlichenAtmosphäreunmittelbarteilhabenundmichtäglichgrund-
sätzlich mit allen dort tätigenWissenschaftlern austauschen. Auch von den regelmäßig
veranstaltetenKolloquien ergaben sich zusätzlich fruchtbareAnregungen. Sie führten zu
Begegnungen mit herausragenden Physikern wie beispielsweise mit Carl Friedrich von
Weizsäcker (1912 2007), der mit Heisenberg gut befreundet war. HerrMittelstaedt ließ
auch mich in einer solchen internen Veranstaltung vor einem hochkarätigen Publikum
über DasBegründungsproblemderGeometrie einenVortraghalten, der damit alsmein
erster öffentlich angekündigter Vortrag an einer wissenschaftlichen Institution fungiert.
Auchmenschlichwar dieAtmosphäre optimal, sodaß ich sowohl zu denMittelstaedts als
auch zu den Heisenbergs sogar privat in derenWohnungen eingeladen wurde. Das sich
bei dieserGelegenheit beispielsweise ergebendepersönlicheGesprächmitHeisenberghat-
te mich besonders tief beeindruckt.235 Ihm begegnete ich gelegentlich auch auf seinem
Fußweg ins Institut.
Fachlichherrschte amMPIeine eherungewöhnlicheAtmosphäre, diemir inmeiner da-
maligenEntwicklungsphase jedoch sehr entgegenkam.Denn die Physik spielte irgendwie
nicht dieHauptrolle. VonWeizsäcker sprachmehr über Philosophie undFriedenspolitik.
Mein vonMittelstaedt angeregtesVortragsthemabefaßte sich beispielsweise ua.mit dem
Operationalismus eines etwas merkwürdigenWissenschaftlers wie Hugo Dingler (1881
1954).236 Zu dieser Thematik ludMittelstaedt etwa im Dezember 1964 dann auch den
234HerrRistig (27.1.1935 16.1.2011)wurde später Physikprofessor an derUniversität zuKöln.
235TBIII, S.108.
236https://de.wikipedia.org/wiki/Hugo_Dingler, Zugriff 5.4.2016.
Reflexionen vor Reflexen
Memoiren eines Forschers
- Title
- Reflexionen vor Reflexen
- Subtitle
- Memoiren eines Forschers
- Author
- L. Wolfgang Bibel
- Publisher
- Cuviller Verlag Göttingen
- Location
- Göttingen
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-SA 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 464
- Category
- Biographien
Table of contents
- Einleitung 1
- Vorfahren 11
- Kindheit 51
- Zielsuche 153
- Forscherleben 281
- Resümee 413
- Stichwort- und Namensverzeichnis 427