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420 KAPITEL5. RESÜMEE
nicht leicht entferntwerdenkonnte, undverfügendann zudemnochüberdasUmfeldund
die Kraft, diese prekäre Lage über längere Zeiten, etwa mehr als ein Jahrzehnt wie in
meinemFall, durchstehen zu können.
Vielleicht denken Sie nun: Die Welt ist halt wie sie ist; damit muß man sich eben
abfinden. Wenn wir uns damit ins eigene Fleisch schneiden, sollten wir uns nach mei-
nerÜberzeugung definitiv nicht damit abfinden, sondern versuchen dieVerhältnisse zum
Besseren hin zu ändern. Dazu müßte man aber erst einmal davon überzeugt sein, daß
dasbeschriebenekollektiveVerhalten sonachteiligwirklich ist.Denken sie anmeinenFall
als Beispiel und nehmenwir an,meineWiderstandskraft wäre zusammengebrochen und
ichwäreuntergegangen.Dannwäremeine fürdieGesellschaft erarbeiteteLeistungsbilanz
schlicht und einfach nicht entstanden. Ich binmir dessen bewußt, daß viele einen solchen
gesellschaftlichenVerlust nurmit einemAchselzucken abtun: na und? Wer jedoch auch
dasGanze unseresGemeinwesens imBlick hat, der wirdmir zustimmen, daßwir es hier
mit einem Fehler im gesellschaftlichen Getriebe zu tun haben, an dessen Überwindung
wir arbeiten sollten.
NurdieNachdenklichenunterunsverfügenüberdasPotenzial, Innovationen imKleinen
wie imGroßen zu schaffen.Undausgerechnetdiese leidennebendembishierher erläuter-
tenNachteil noch unter einemzweiten fundamentalenManko. Sie können aufgrund ihrer
Fähigkeit zur Reflexion in spontanenDiskussionen keine so gute Figur abgebenwie sol-
che, die in sprudelnderGeschwätzigkeit zu allem und jedem ihre oberflächlicheMeinung
jederzeit im Brustton der Überzeugung zum Besten zu geben bereit sind. Nachdenken
stört denRedefluß.Genau deshalb hinterläßt einNachdenklicher imGegensatz zumGe-
schwätzigenoftdenEindruckderUnsicherheit, der imGrundegenommen jaauchzutrifft,
denn keiner von uns kann sich in schwierigeren Fragen völlig sicher sein. So nimmt der
Nachdenkliche auch seine eigenenMeinungen nicht unbesehen als bareMünze, sondern
hinterfragt jeden Satz ein zweitesMal und gerät so ins Stammeln. Trotzdem sollteman
ihmvielmehr vertrauen als demoberflächlichenSchwätzer, demselbstkritischeReflexion
fremd ist. Genau das Gegenteil tun wir in reflexhafter Weise. Zudem fallen die Nach-
denklichen oft ins Grübeln, wo man Aufmerksamkeit von ihnen erwartet hätte. Genau
dieses Verhalten dürfte häufig dem zugrundegelegen haben, was ich in den vorausgegan-
genenKapitelnmit demRuisinger-Phänomen bezeichnet habe. Immerhatte esNachteile
zur Folge und dürfte vielenNachdenklichen unter uns genausoNachteile einbringen.Mit
all diesemVerhalten erschweren wir ausgerechnet den Nachdenklichen das Fortkommen
infolge dieserÄußerlichkeiten, wodurchwir letztlich uns allen schaden.
Reflexionen vor Reflexen
Memoiren eines Forschers
- Title
- Reflexionen vor Reflexen
- Subtitle
- Memoiren eines Forschers
- Author
- L. Wolfgang Bibel
- Publisher
- Cuviller Verlag Göttingen
- Location
- Göttingen
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-SA 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 464
- Category
- Biographien
Table of contents
- Einleitung 1
- Vorfahren 11
- Kindheit 51
- Zielsuche 153
- Forscherleben 281
- Resümee 413
- Stichwort- und Namensverzeichnis 427