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426 KAPITEL5. RESÜMEE
(5), erkannte sie diese als diemeinige in demManuskript, das nichtmitmeinemNamen
versehenwar. Sie nahmes also zu sich (6), fuhr damit zurück zumVeranstaltungsort und
übergab es dort sofort ihremChef (7). Der wußte ja aus meiner Rede von demVerlust
und reichte es daher unverzüglich anmichweiter.
Die sieben hervorstechendsten Zufälligkeiten in dieser Geschichte habe ichmit Ziffern
versehen.Wennauchnureinedavonnichteingetretenwäre,hätte ichdasManuskriptnicht
mehr (rechtzeitig) inmeineHändebekommen. Schon (2)war eher unwahrscheinlich,weil
der kürzesteWegmit demRadvomBüro nachAussage vonFrauGeiger eigentlich nicht
überdieKönigin-Luise-Straßegeführthätte. Irgendetwasbrachte siedazu, ihnzuwählen.
Was liegt nicht alles auf einer Straße herum undwird von niemandem beachtet. Ausge-
rechnet zumZeitpunkt, alsFrauGeiger die Straße entlang fuhr, beugte sichdagegen laut
(4) derMann über dasManuskript auf der Straße, dasmir an dieser Stelle offenbar un-
ter demJackett unbemerkt von uns vierenweggeglittenwar.Wen kümmern schon ältere
Menschen in denStraßenunserer Städte, auchwenn sie hilfsbedürftig erscheinenundvor
allem, wenn man selbst in Eile ist. Ausgerechnet Frau Geiger fühlte sich laut (3) aber
doch so angesprochen, daß sie sich zumHalten genötigt sah.Wäre ihrmeineHandschrift
amMorgen nicht aufgefallen,worauf (5) hinweist, hätte sie trotzdemdemFunddes älte-
renMannes keinerlei Bedeutung zumessen können. Nur sie konnte auch dessenmögliche
Bedeutung erahnen undwar dann so engagiert, den Fund auchmitzunehmen und gleich
bei derAnkunftweiterzureichen,was ebenfalls alles andere als selbstverständlichwarund
mich schließlich gerettet hat.
Geradewennman alsMathematikerweiß, wie sich dieGesamtwahrscheinlichkeit einer
solchen Folge von Zufälligkeiten aus den Einzelwahrscheinlichkeiten berechnet, muß ei-
nem dieses Geschehen insgesamt als eigentlich völlig undenkbar erscheinen. Es sei denn,
es gäbe doch Zusammenhänge oder Kräfte in dieserWelt, von denen wir rational oder
wissenschaftlichgesehennochüberhauptkeineAhnunghaben.AlsWissenschaftlerglaube
ich nur dann anBehauptungen, wenn sie von einsichtigenEvidenzen gestützt sind. Eine
solcheGeschichte könntenun ja alsEvidenzherhalten.Aber alsEvidenzwofür?Ebenals
Evidenzdafür, daßwirmitunsererRatio zwar schonviel überdieseWelt herausgefunden
haben, das uns das Leben außerordentlich viel leichter gemacht hat, daß wir aber mit
diesen Erkenntnissen bislang halt doch erst einen vielleicht nur winzigen Einblick in das
wirklicheGeschehen in dieserWelt erhaschen konnten. So kommtman auch als Forscher
gegenEnde seines Lebens letztlich zu der jahrtausende altenEinsicht: Ich weiß, daß ich
nichts weiß. 12
12https://de.wikipedia.org/wiki/Ich_weiß,_dass_ich_nichts_weiß, Zugriff 25.9.2016.
Reflexionen vor Reflexen
Memoiren eines Forschers
- Title
- Reflexionen vor Reflexen
- Subtitle
- Memoiren eines Forschers
- Author
- L. Wolfgang Bibel
- Publisher
- Cuviller Verlag Göttingen
- Location
- Göttingen
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-SA 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 464
- Category
- Biographien
Table of contents
- Einleitung 1
- Vorfahren 11
- Kindheit 51
- Zielsuche 153
- Forscherleben 281
- Resümee 413
- Stichwort- und Namensverzeichnis 427