Page - 87 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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mit Musik zudröhnt, gar nichts [mit meinen Arbeiten] anfangen können. Für
die ist es wahrscheinlich ein leeres Rauschen. Das rauscht dann an ihnen vor-
bei. Es erscheint ihnen als unsinnig.“ 85 Bei Bernhard wie bei Jelinek lautet der
Vorwurf an die Kritik, diese sei aufgrund ihres eingeschränkten Sensoriums
für künstlerisch-artistische Ausdrucksformen nicht in der Lage, die jeweiligen
Texte in ihrer ästhetischen Komplexität – also nicht nur auf der Inhaltsebene –
wahrzunehmen und zu würdigen: „Der Geist bleibt immer auf der Strecke“, wie
Bernhard 1987 im letzten ausführlichen Interview mit einem etwas plakativen
Bild für das Verhältnis von Literatur und Kritik konstatiert, „[d]er Geschmack
bleibt auf der Strecke. Die Poesie bleibt auf der Strecke. Darüber reiten die
Kolonnen von Redakteuren und Kritikern hinweg. Sie gehen über alle Leichen,
die irgend etwas Schöpferisches machen.“ (TBW 22.2, 336 f.) Dem „berühmten
Kritiker“ Joachim Kaiser, 1970 gemeinsam mit Bernhard bei einem feierlichen
Festakt ausgezeichnet, gesteht Bernhard in Meine Preise Anfang der 1980er Jahre
zwar „musikwissenschaftliche[ ] Kenntnisse“, einen „verblüffenden geballten
Kenntnisreichtum“ zu: „Von Literatur“ jedoch, so das harsche Fazit, „versteht
Kaiser nichts“ (TBW 22.2, 440).
„vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“:
Bernhard liest Rezensionen (Frost)
Warf er den bundesdeutschen Kritikern also mehrheitlich vor, die musikali-
sche Qualität seines Schreibens nicht entsprechend anzuerkennen, war es um
Bernhards Meinung zur Situation der Kritik in seinem Heimatland keines-
wegs besser bestellt. Schon in einer frühen Literatur-Polemik hatte Bernhard
im Oktober 1959 „das Fehlen auch nur einer einzigen Kritikerpersönlichkeit in
Österreich“ beklagt; er sei, wie er in der autobiographischen, gleichwohl in der
dritten Person Singular verfassten Skizze Junge Köpfe für das Magazin Morgen
schreibt, „wütend“ über diesen Umstand (TBW 22.1, 577). Gemeinsam mit der
mangelnden Selbstkritik der Wiener Autorenszene ergebe dieses Defizit des hie-
sigen Literaturbetriebs eine fatale Kombination:
85 Hans-Jürgen Heinrichs: Wo nichts ist, kann nichts vergeudet werden. Gesellschaft und Obszö-
nität, Lust und Schreiben, Männer und Frauen: Elfriede Jelinek im Gespräch. In: Frankfurter
Rundschau, 4. 3. 2000. Zur Bedeutung der Musikalität bei Bernhard und Jelinek vgl. jetzt Rita
Svandrlik: Das Zusammenwirken von Lust und Unlust beim Lesen von Elfriede Jelinek und
Thomas Bernhard. In: Figurationen 15 (2014), H.
2, S.
83 – 98, bes. S.
97, sowie allg. den Sammel-
band: Sprachmusik. Grenzgänge der Literatur. Hg. v. Gerhard Melzer u. Paul Pechmann. Wien:
Sonderzahl 2003, darin die Beiträge von Martin Huber, Gudrun Kuhn und Manfred Mittermayer
(zu Bernhard) sowie Gerhard Fuchs und Pia Janke (zu Jelinek).
„vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471