Page - 133 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik
âLieber wĂŒrde ich die Maultrommel schlagen oder die Mundharmonika blasen
als ĂŒber Literatur redenâ, beginnt Handke am 23.Â
Juni 1984 in Avignon seine Lau-
datio auf Gustav JanuĆĄ anlĂ€sslich der Verleihung des Petrarca-Preises.287 âUnd
lieber wĂŒrde ich ĂŒber Literatur reden als ĂŒber das gegenwĂ€rtige GeschĂ€ft, den
gegenwĂ€rtigen Umgang, den gegenwĂ€rtigen Handel mit der Literaturâ; jedoch
mĂŒsse davon âauch einmal die Rede seinâ: âIch schwinge mich also auf und
beginne meine Ehrung des Poeten â denn diese soll bei allem doch die Haupt-
sache sein â mit einer kurzen Beschreibung meiner Sicht der gegenwĂ€rtigen
deutschen Literaturszenerie.â 288 Es handelt sich um Handkes vielleicht schĂ€rfste
Abrechnung mit dem Literaturbetrieb, insbesondere mit dem Primat der Ăko-
nomie im literarischen Feld, dem Handke vorwirft, die SensibilitĂ€t fĂŒr Ăsthe-
tik zusehends unterminiert zu haben. Gustav JanuĆĄâ Gedichte hatte Handke ein
Jahr zuvor in der âBibliothek Suhrkampâ dem deutschsprachigen Lesepublikum
vorgestellt.289 Seine Avignoner Lobrede auf den slowenischen Dichter wird indes
von einer Abrechnung prÀludiert, die beinahe die HÀlfte des gedruckten Textes
einnimmt. Die Ehrung fĂŒr den âAltersgenosse[n]â 290 und ehemaligen MitschĂŒler
Handkes im Tanzenberger Stiftsgymnasium, den der Laudator mit der Rilkeâschen
Wendung vom âsachlichen Sagenâ zum exemplarischen âDichterâ erklĂ€rt,291 gerĂ€t
dabei beinahe in den Hintergrund.
287 Peter Handke: Einwenden und Hochhalten. Rede auf Gustav JanuĆĄ. In: P. H.: Langsam im
Schatten (Anm. 62), S. 125 â 135, hier S. 125. Die Datierung folgt dem Kommentar in Handke/
Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 2), S. 470 f.
288 Handke: Einwenden und Hochhalten (Anm. 287), S. 125.
289 Vgl. Gustav JanuĆĄ: Gedichte. 1962 â 1983. Aus dem Slowenischen v. Peter Handke. FrankfurtÂ
a.Â
M.:
Suhrkamp 1983. In der Folge setzte Handke seine TĂ€tigkeit als Ăbersetzer von JanuĆĄ mit meh-
reren LyrikbĂ€nden im Salzburger Residenz Verlag fort: Wenn ich das Wort ĂŒberschreite (1988);
Mitten im Satz (1991); Der Kreis ist jetzt mein Fenster (1998). Zu Handkes BeschÀftigung mit
Januƥ vgl. Höller: Peter Handke. Reinbek b. Hamburg 2007, S. 101 f., sowie die Kontextualisie-
rung bei Fabjan Hafner: Zwischen Herkunft und Ankunft. Peter Handke ĂŒbersetzt. In: Peter
Handke. Freiheit des Schreibens â Ordnung der Schrift (Anm. 66), S. 73 â 86, bes. S. 82; ders.:
Peter Handke. Unterwegs ins Neunte Land (Anm. 266), S. 166 â 171.
290 Peter Handke: Zu Gustav JanuĆĄ, âGedichte 1962 â 1983â. [1983] In: P. H.: Langsam im Schatten
(Anm. 62), S. 109 â 111, hier S. 110.
291 Handke: Einwenden und Hochhalten (Anm. 287), S. 135: âWir nennen Gustav JanuĆĄ einen
Dichter, weil er an keiner Stelle meint, sondern stets sachlich sagt.â Im Gedicht an die Dauer
verwendet Handke die Sentenz vom âsachlichen Sagenâ mit Blick auf Johann Wolfgang Goethe:
âGoethe, mein HeldÂ
/ und Meister des sachlichen Sagensâ (Peter Handke: Gedicht an die Dauer.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 12); sie stammt aus einem Brief Rainer Maria Rilkes an
seine Frau Clara vom 19. 10. 1907. Vgl. Sascha Löwenstein: Poetik und dichterisches Selbstver-
stĂ€ndnis. Eine EinfĂŒhrung in Rainer Maria Rilkes frĂŒhe Dichtungen (1884 â 1906). WĂŒrzburg:
Königshausen & Neumann 2004, S.Â
224. Zur Bedeutung dieser Wendung bei Handke siehe auch
Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471