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Kreisky hingegen verlor ĂŒber Bernhards Attacken lange Zeit kein Wort â erst
anlĂ€sslich der UrauffĂŒhrung von Heldenplatz 1988 Ă€uĂerte er sich in einem
Telefon interview mit der Kronen Zeitung, wobei er die Aufrichtigkeit des Autors
in Zweifel zog.92
Auch Bernhards Angriffe gegen Roth und Turrini finden ihre Entsprechung
und Erweiterung in den Invektiven fiktionaler Figuren und Sprechinstanzen: In
HolzfĂ€llen etwa echauffiert sich der ErzĂ€hler ĂŒber die vielerorts praktizierte âver-
abscheuungswĂŒrdige Staatsanbiederungskunst als Literaturâ (TBW 7, 157), ĂŒber
jene Autorinnen und Autoren zumal, die als âabsolut niedertrĂ€chtige Staats-
pfrĂŒndnerexistenzenâ (TBW 7, 158) den âgemeine[n] und verlogene[n] Weg des
Staatsopportunismusâ beschreiten (TBW 7, 161). WĂ€hrend die schreibenden Kol-
leginnen und Kollegen in HolzfÀllen durch Decknamen vorderhand nicht mehr
eindeutig zu identifizieren sind â fĂŒr Insider waren und sind sie es bekanntlich
sehr wohl â, boten Rezension und Leserbrief Bernhard die Möglichkeit, die
Polemik direkt und unverstellt ad hominem zu richten. Die Besprechung des
Kreisky-Bandes in der Zeitschrift profil ĂŒbernahm bei sich bietender Gelegen-
heit die Funktion einer initialen Provokation, ansonsten spielte das Genre der
Literaturkritik in Bernhards Ensemble polemischer Einmischungen â ganz im
Gegensatz zu Handkes publizistischer PraxisÂ
â aber keine wesentliche Rolle mehr.
Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur)
WĂ€hrend sich Bernhards literaturkritische Ambitionen ab Mitte der 1950er Jahre
auf die referierte Kreisky-Episode beschrĂ€nkten, taucht in seinen ĂuĂerungen
zur Literaturkritik neben deren pauschaler Verunglimpfung auch das Motiv der
âSelbstrezensionâ auf. Gemeint ist damit weder die von GĂ©rard Genette beschrie-
bene Idee, einem Buch durch Kommentare des Verfassers zu einer ârelevanten
LektĂŒreâ zu verhelfen,93 noch sollte, wie Friedrich Schiller dies im Zuge der Urauf-
fĂŒhrung der RĂ€uber 1782 in Szene gesetzt hat,94 die anonyme Selbstrezension den
Austausch von Literatur und Literaturkritik im öffentlichen Raum (und damit
92 Vgl. Christoph: Chronik eines Eklats (Anm. 41), S. 97, und Bentz: Thomas Bernhard â Dich-
tung als Skandal (Anm.Â
54), S.Â
78 f.; dazu auch Petritsch: Bruno Kreisky (Anm.Â
13), S.Â
290, derÂ
â
leider ohne Nennung einer QuelleÂ
â den Wortlaut von Kreiskys Kommentar zitiert: âBernhard
ist ein schrecklicher Raunzer. Ich habe ja gewisse Sachen von ihm gelesen, da war er immer
souverĂ€n â als Raunzer. In Wirklichkeit ist der Bernhard ein KleinbĂŒrger.â
93 GĂ©rard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort v. Harald
Weinrich. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 10.
94 Vgl. Thomas Wegmann: Der Dichter als âLetternkrĂ€merâ? Zur Funktion von Paratexten fĂŒr die
Organisation von Aufmerksamkeit und Distinktion im literarischen Feld. In: Das achtzehnte
Jahrhundert 36 (2012), H. 2, S. 238 â 249, hier S. 242 f., sowie Nina Birkner: Die Theaterkritik
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard372
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471