Page - 284 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter
Thomas Bernhards TĂ€tigkeit fĂŒr das Demokratische Volksblatt kam um den Jahres-
wechsel 1951/1952 unter anderem ĂŒber Carl Zuckmayers FĂŒrsprache beim Chef-
redakteur der Zeitung und spÀteren PrÀsidenten der Salzburger Festspiele, Josef
Kaut, zustande.42 Neben ersten Veröffentlichungen ĂŒber die soziale Lage im Salz-
burg der frĂŒhen 1950er Jahre (Menschen ohne Heimat, Mit Retorten und Filter
gegen Pantscher und Schicksale am Hauptbahnhof) und ĂŒber literarische Themen
trat Bernhard bald auch mit anonymen Gerichtsreportagen hervor. Die Verfasser-
schaft einzelner Artikel in der Rubik âAus dem Gerichtssaalâ ist heute nicht mehr
zu eruieren, lediglich von jenen BeitrÀgen, die sich gesammelt in einer Mappe
im Nachlass des Autors befinden, kann âmit einiger Sicherheitâ angenommen
werden, dass sie von Bernhard stammen.43
Das Demokratische Volksblatt war nach der Genehmigung durch die ameri-
kanischen Besatzungstruppen im Oktober 1945 gegrĂŒndet worden und galt als
offizielles Organ der Sozialistischen Partei Ăsterreichs. In seinen Reportagen
schildert der junge Autor, der sich kaum von âlandlĂ€ufigen Wertvorstellungen
und Vorurteilenâ 44 sowie sprachlichen Konventionen entfernt, Verhandlungen
in Salzburger Gerichten: Sittlichkeitsdelikte, kleinere DiebstÀhle und Wirtshaus-
raufereien machen einen GroĂteil der FĂ€lle aus und sind weitgehend dem Feld
der KleinkriminalitĂ€t zuzurechnen: âDie Zehn-Schilling-FĂ€lle des Franzl, die
Nachthemdgeschichte der Mariandl oder die Ehrenbeleidigung zwischen Herrn
Mayer und Herrn MĂŒller erschĂŒttern nicht die Weltâ, war sich Bernhard am
28. November 1952 in dem namentlich gezeichneten Feuilleton Prozesse, nichts
als Prozesse selbst bewusst (TBW 22.1, 87).
Der Gestus der Berichte erweist sich dabei als ambivalent: Neben Artikeln, die
mit komischen Elementen, Ăbertreibungen und der denunziatorischen Imitation
von Dia- und Soziolekten arbeiten, ja die AngeklagtenÂ
â so Karl-Markus GauĂÂ
â âoft
einer billigen Pointe wegenâ verraten,45 ergreift Bernhard immer wieder vehement
Partei fĂŒr die Delinquenten, kritisiert die HĂ€rte von Urteilen und fĂŒhrt Delikte
42 Vgl. Mittermayer: Thomas Bernhard [2015] (Anm.Â
25), S.Â
90. Zu den verschiedenen âVersionen,
auf welche Weise Thomas Bernhard Mitarbeiter des Demokratischen Volksblatts wurdeâ, vgl.
den Kommentar in TBW 22.1, 706 f., sowie die einander widersprechenden InterviewĂ€uĂerun-
gen in TBW 22.2, 112 u. 335 f., bzw. in Kurt Hofmann: Aus GesprÀchen mit Thomas Bernhard.
Wien: Löcker 1988, S. 41 f.
43 Habringer: Der Auswegsucher (Anm.Â
26), S.Â
33. Vgl. die kommentierte Textsammlung in: Aus
dem Gerichtssaal. Thomas Bernhards Salzburg in den 50er Jahren. Hg. v. Jens Dittmar. Wien:
Edition S 1992, sowie jetzt den Kommentar in TBW 22.1, 891 â 903.
44 Herbert Moritz: Lehrjahre. Thomas BernhardÂ
â vom Journalisten zum Dichter. Weitra: Biblio-
thek der Provinz 1992, S. 49.
45 Karl-Markus GauĂ: Die Legende. In: SĂŒddeutsche Zeitung, 19. 12. 2015.
âZeitungsgâschichtâlnâ: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker284
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471