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III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN:
EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK
Sehlustfeindliche SchwÀtzer
Im postum publizierten Berliner Journal hat Max Frisch im FrĂŒhjahr 1973 Rezen-
sionen als âlesenswert wie Börsenkurseâ bezeichnet. In der kurzen Notiz geht er
von der feuilletonistischen Rezeption des gerade erschienenen Arbeitsjournals
von Bertolt Brecht aus, um in weiterer Folge die Erwartungshaltung der Kritik
allgemein skeptisch in den Blick zu nehmen: âWas genau unter Privat zu ver-
stehen ist, muss keiner von ihnen definieren; man weiss schon so ungefÀhr, was
verlangt ist, was hingegen ganz und gar schmÀhlich, und handkehrum ihr Ent-
zĂŒcken: Man darf wieder Ich sagen, weil Peter Handke es gewagt und gekonnt
hat.â 1 Der Schweizer SchriftstellerÂ
â auf den Wunschloses UnglĂŒck âden grössten
Eindruck gemachtâ hatte, weil der âVirtuoseâ Handke nun âplötzlichÂ
[âŠ] etwas zu
meldenâ habe, sodass er, Frisch, sich ânicht mehr frage, warum ich leseâ 2Â
â spielt
mit dem Vergleich von Literaturkritik und Börsenkurs auf gleich zwei vermeint-
liche Probleme der Branche an: zum einen auf die eingeschliffenen Muster und
Ressentiments der Literaturkritik, die sich um die Reflexion ihrer Analysekate-
gorien nicht ausreichend kĂŒmmere und deshalb kaum erkenntnisfördernde oder
gar lesenswerte Texte hervorbringe; zum anderen auf das ökonomische KalkĂŒl
(Stichwort Bestsellerliste), das in einem kapitalistisch organisierten Kulturbetrieb
hinter weiten Teilen des Literaturjournalismus stehe. Beide VorwĂŒrfe begleiteten
und begleiten die Geschichte der Literaturkritik seit langer Zeit.3 Sie zÀhlen, wie
sich an vielen Beispielen zeigen lÀsst, zum fixen Repertoire, zum Generalbass
1 Max Frisch: Aus dem Berliner Journal. Hg. v. Thomas StrÀssle unter Mitarb. v. Margit Unser.
Berlin: Suhrkamp 2014, S. 80.
2 Ebd., S.Â
27. Handke indes zeigte sich, geht man nach einer Notiz von Siegfried Unseld, wenig spÀter
von Frischs ErzĂ€hlung Montauk wenig begeistert: âSehr kritische ĂuĂerung ĂŒber die gespielte
Ehrlichkeit von Frischs âMontaukâ.â (Siegfried Unseld: Reisebericht Paris, 20./21. November
1975. In: Peter Handke/S. U.: Der Briefwechsel. Hg. v. Raimund Fellinger u. Katharina Pektor.
Berlin: Suhrkamp 2012, S. 296)
3 Vgl. Oliver Pfohlmann: Kleines Lexikon der Literaturkritik. Marburg: LiteraturWissenschaft.de
2005, S.Â
31 f.: âZu den immer wieder gegen die Kritik erhobenen VorwĂŒrfen gehören KĂ€uflichkeit
bzw. Korruption, fehlende Ă€sthetische MaĂstĂ€be, Parteilichkeit, illegitime MachtanmaĂung, die
Vernichtung von Autorenexistenzen, der elitÀre Ausschluss breiter Publikumsschichten, popu-
listische Simplifizierung, die Dominanz Ă€sthetischer, ethischer oder politischer MaĂstĂ€be.â Zur
âKritik der Institution Literaturkritikâ vgl. grundlegend Wolfgang Albrecht: Literaturkritik.
Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 85 â 97.
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471