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Jeder fruchtbare Non-Konformismus in Ehren, besonders in einer kulturbeflissenen
Zeit wie der unseren! Aber Rilke einen ânicht sehr bedeutsamen Dichterâ zu nennen
oder JĂŒngers Marmorklippen als âPapierblumenĂ€sthetikâ abzutun, hat damit nichts
mehr zu tun, wenn auch in diesen Urteilen etwas Richtiges getroffen sein mag. Das
ist reine Ăberheblichkeit, nicht zu sagen DĂŒnkel.222
Als er zwei Jahre spÀter, im November 1959, in der Monatsschrift Morgen alle
Schriftstellerinnen und Schriftsteller seiner Generation als âEpigonenâ denun-
zierte, die âin den KaffeehĂ€usern bei lebendigem Leib vermodernâ und sich
gegenseitig âin den Spalten der schmutzigsten, witzlosesten und unbedeutendsten
ZeitungsblĂ€tter der Weltâ âbeweihrĂ€uchernâ (TBW 22.1, 577), fĂŒhlten sich H. C.
Artmann, Gerald Bisinger, Jeannie Ebner, Elfriede Gerstl und Kurt Klinger zu
einer öffentlichen Erwiderung und Zurechtweisung des Provokateurs heraus-
gefordert.223 Konnte Bernhard zu diesem Zeitpunkt auch noch keine eigenen
literarischen Texte vorweisen, die diese Ăberheblichkeit tatsĂ€chlich hĂ€tten recht-
fertigen können, fand er im Laufe der zweiten HÀlfte der 1950er Jahre doch zu
einem charakteristischen Gestus des Sprechens ĂŒber die Literatur seiner Kollegen
und Kontrahenten, in dem der Sound der spÀteren Polemiken, seine umfassende
âRhetorik der Bezichtigungâ,224 bereits anklingt.
âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen
(Alte Meister, Auslöschung)
Im Zuge seiner TĂ€tigkeit fĂŒr das Demokratische Volksblatt in der ersten HĂ€lfte
der 1950er Jahre habe Bernhard, so sein einstiger Vorgesetzter in der Redaktion,
Herbert Moritz, âRoutine im Schreibenâ und âSicherheit im Auftreten und Selbst-
gefĂŒhlâ gewonnen.225 Mit der Zeit habe sich der junge Autor sogar âzu einem
recht gewichtigen und wohl auch ein wenig gefĂŒrchteten Kritiker in den lokalen
222 O. Sch.: Thomas Bernhard und Gerhard Fritsch. In: Salzburger Nachrichten, 14. 11. 1957. â Es
war womöglich diese Lesung, nach der sich Bernhard ernĂŒchtert an seine Wiener Freundin
Jeannie Ebner wandte: âMir hat er ganz am Anfang, nach einer Lesung in Salzburg, geschrieben,
daĂ Kritiken immer der gleiche KĂ€se sind und daĂ letztendlich die Dichtung die Bartwische
der Literatur und der Redaktionsstuben zum Teufel fegt.â (Maria Fialik: Eine Bombenreklame.
GesprÀch mit Jeannie Ebner, Schriftstellerin. In: M. F.: Der Charismatiker. Thomas Bernhard
und seine Freunde von einst. Wien: Löcker 1992, S. 17 â 47, hier S. 35).
223 Vgl. dazu den Kommentar in TBW 22.1, 806 f.
224 Manfred Mittermayer: LĂ€cherlich, charakterlos, furchterregend. Zu Thomas Bernhards Rhe-
torik der Bezichtigung. In: Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Hg. v. Joachim
Knape u. Olaf Kramer. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 25 â 44.
225 Moritz: Lehrjahre (Anm. 44), S. 167 f.
âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen 333
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471