Page - 117 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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1980 in einem Interview mit dem Spiegel nach Erfahrungen mit der Literatur-
kritik befragt, antwortete Bernhard lapidar, ohne sich in der Folge genauer zu
erklĂ€ren: âZwischen grauenhaft und ganz lustig.â (TBW 22.2, 169) Ebenso wie
der Schlusssatz von Ist das Theater nicht mehr, was es war? â âLaĂt sie ziehen!â
(TBW 22.1, 614) â suggeriert auch diese Sentenz eine SouverĂ€nitĂ€t und Distanz
gegenĂŒber den EinschĂ€tzungen der Literaturkritik, die Bernhard, allen Erfol-
gen im Feuilleton und aller öffentlichen Konsekration zum Trotz, nie dauer-
haft aufrechterhalten konnte; zeitlebens spielten sie, mochte er sie fĂŒr noch so
âdummâ und âskurrilâ halten, fĂŒr den kĂŒnstlerischen Selbstentwurf des Autors
eine zentrale Rolle.
Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen
Wie Thomas Bernhard hat auch Peter Handke, was die literaturkritische Wahr-
nehmung seiner BĂŒcher betrifft, selten von positiven Erfahrungen berichet. In
einer Reportage, die im FrĂŒhjahr 1987 von einen Besuch bei Handke am Salzbur-
ger Mönchsberg berichtet, hĂ€lt Heinz-Norbert Jocks in aller KĂŒrze fest: âNatĂŒrlich
hat Peter Handke ein gespanntes, in Wahrheit vielleicht sogar gestörtes VerhÀlt-
nis zur Kritik.â 200 Zwar war der Auftakt mit Helmut Scheffels Besprechung der
Hornissen â sie habe ihm âsehr gefallen, sie ist, glaube ich, auch gut geschrie-
benâ 201Â
â ein vielversprechender, Handkes RezensionslektĂŒren fielen in der Folge
jedoch eher selten so erfreulich aus: âAm schönsten fand ich, was [Reinhard]
Baumgart in der SĂŒddeutschen Zeitung schriebâ, lĂ€sst Handke seinen Freund
Alfred Kolleritsch 1972 nach der Veröffentlichung von Der kurze Brief zum lan-
gen Abschied wissen: âEins der wenigen Male, daĂ ich mich in einer Rezension
200 Heinz-Norbert Jocks: Ein MÀrtyrer unter ErzÀhlzwang. Sonntagnachmittag eines Autors.
Bei Peter Handke in Salzburg. In: Stuttgarter Zeitung, 28. 3. 1987. Dazu auch Gerhard Pfister:
Handkes Mitspieler. Die literarische Kritik zu Der kurze Brief zum langen Abschied, Langsame
Heimkehr, Das Spiel vom Fragen, Versuch ĂŒber die MĂŒdigkeit. Bern u. a.: Lang 2000, S. 66 f.
201 Handke an Unseld, 22. 3. 1966. In: Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 2), S. 32. Einige
Jahre spĂ€ter ist Handke noch einmal auf diese erste Rezension zurĂŒckgekommen: âBevor die
komische Rede in Princeton geschah, gab es eine groĂe Rezension in Deutschland, das war
die Rezension von Helmut Scheffel in der FAZ. Es war eine eingehende und wirklich beschrei-
bende, einen Autor vorstellende Rezension, die auchÂ
â das darf man jetzt nicht auslassen, ohne
daĂ ich mich damit brĂŒsten willÂ
â auf der ersten Seite der Literaturbeilage erschien.â (Manfred
Durzak: FĂŒr mich ist Literatur auch eine Lebenshaltung. GesprĂ€ch mit Peter Handke. [1973] In:
M. D.: GesprĂ€ch ĂŒber den Roman. Formbestimmungen und Analysen. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 1976, S. 314 â 343, hier S. 316) Zu Scheffels Hornissen-Rezension vgl. Kap. II, Abschnitt
ââĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen
nach Princetonâ. Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471