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In Auslöschung. Ein Zerfall (1986) schließlich wird Franz-Josef Murau seinem
Schüler Gambetti die Maxime vermitteln, man müsse „nach und nach gegen
alles sein“, ja im Zuge der „allgemeinen Vernichtung, die wir im Auge haben“,
auch und vor allem „das Alte auflösen, um es am Ende ganz und gar auslöschen
zu können für das Neue“:
Das Alte muß aufgegeben werden, vernichtet werden, so schmerzhaft der Prozeß auch
ist, um das Neue zu ermöglichen, wenn wir auch nicht wissen können, was denn das
Neue sei, aber daß es sein muß, wissen wir, Gambetti, habe ich zu diesem gesagt, es
gibt kein Zurück. Natürlich haben wir, wenn wir so denken, alles Alte gegen uns und
also haben wir Alles gegen uns, Gambetti, habe ich zu diesem gesagt. Das darf uns
aber nicht hindern, unsere Idee, das Alte gegen das von uns gewünschte Neue ein-
zutauschen, zunichte zu machen. (TBW 9, 166)
In den Jahren seiner Tätigkeit für das Demokratische Volksblatt scheint Bernhard
eine solche Vorstellung noch einigermaßen fremd gewesen zu sein, und er befand
sich dabei im österreichischen Kulturbetrieb in guter Gesellschaft, war das Para-
digma des „Anschlusses an die Tradition“, so Sigurd Paul Scheichl, doch „in den
50er Jahren das vorherrschende“.212 Mit seinem Lob für das Salzburger Heimat-
werk vom 30. Oktober 1953, „aus der Tradition heraus Neues und Stilvolles zu
schaffen“ (TBW 22.1, 289), stand Bernhard keineswegs allein. Zu einer stärker
individuellen Positionierung, die mit der polemischen Distanzierung von der
Tradition und ihren (regionalen) Statthaltern einherging, fand er erst im Lauf
der folgenden Jahre.
„Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken
Bernhards Veröffentlichungen im Demokratischen Volksblatt kamen Ende Mai
1954 mit einem Artikel über den bildenden Künstler Arno Lehmann vorläufig
zu einem Ende; im Juni und Juli folgten zunächst drei Theaterkritiken in den
Salzburger Nachrichten, bevor dann eine Lücke von gut viereinhalb Monaten
festzustellen ist. Erst am 24. und 25.
November 1954 erschienen drei Artikel aus
dem Kulturressort im Demokratischen Volksblatt, am 4. und 20.
Dezember zwei
letzte Feuilletons zur Weihnachtszeit, bevor Bernhard seine Tätigkeit für die
sozialdemokratische Zeitung endgültig aufgab. Bei verschiedenen Gelegenheiten
hat er darüber berichtet, dass der Wunsch der Redaktion, er möge in die SPÖ
eintreten, zum Bruch geführt habe: „Ich hätte dort zur Partei gehen sollen, bin
auch dazugegangen, aber nach drei Tagen hab’ ich mir gedacht, daß ich da, weil
212 Scheichl: Vergessene (Anm. 137), S. 79.
„Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471