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Jahr aus der Nacht gesprochen (2010) spukt die Figur eines Hundes, der die
arglistige Gefährdung des Schreibens verkörpert, durch Handkes Aufzeich-
nungen: „‚Wie am Ende des Kapitels den Hund vermeiden?‘ – ‚Ihn übersprin-
gen‘“.227 Und auch jene Szene der Erzählung Der Große Fall (2011), in der der
Schauspieler „in einer stillen Straße“ plötzlich „ein wüstes Bellen und Knurren“
vernimmt und „unversehens eine ganze hundertköpfige, wie tausendschwän-
zige Hunderotte“ 228 auf sich zuschießen sieht, kann im Sinne dieses Schreck-
bildes, das immer auch ein Bild der Selbstbehauptung gegenüber dem Feind
ist, interpretiert werden.229
Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld
Noch vor der Publikation der Lehre der Sainte-Victoire im September 1980 hatte
sich Reich-Ranicki im Frühling des Jahres an einer demonstrativen Tilgung sei-
nes Kontrahenten versucht – einer Tilgung, die im Übrigen zeigt, wie sehr die
Zusammenstellung von Anthologien Aufschluss geben kann über Machtverhält-
nisse, über Ein- und Ausschließungsmechanismen im literarischen Feld. Wie
bereits erwähnt, hatte der Kritiker 1972 Handkes Das Umfallen der Kegel von einer
bäuerlichen Kegelbahn neben Prosatexten von Peter Bichsel, Ernst Bloch, Jürg
227 Peter Handke: Ein Jahr aus der Nacht gesprochen. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2010, S. 36.
228 Peter Handke: Der Große Fall. Erzählung. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 259 f.
229 Wenn davon die Rede ist, der Schauspieler habe „in Gedanken an die Sage von dem altgrie-
chischen Schauspieler und Sänger (Name? ‚weiß nicht mehr‘), welcher von solch einer Meute
zerrissen worden war“ (ebd., S.
260), seinen Weg fortgesetzt, verknüpfte Handke die Episode in
Der Große Fall mit der Figur des antiken Sängers Linos: „Linos war nach einer merkwürdigen
Sage der Argiver ein Knabe, der, von göttlichem Stamm entsprossen, unter Lämmern bei Hir-
ten aufwuchs und von wüthenden Hunden zerfleischt wurde […]. Daß später aus Linos auch
ein Sänger gemacht wurde, einer der ältesten Aöden, der mit Apollo selber einen Wettstreit
beginnt und den Herakles im Zitherspiel unterweist, war ein sehr natürlicher Irrtum; es blieb
indeß auch da die Vorstellung, daß Linos erschlagen worden sei, und man muß wohl anneh-
men, daß in dem alten Gesange selbst von Tod und Untergange die Rede war.“ (Karl Otfried
Müller: Geschichte der griechischen Literatur bis auf das Zeitalter Alexanders. Nach der Hand-
schrift des Verfassers hg. v. Eduard Müller. Erster Band. Breslau: Josef Max und Komp. 1841,
S. 29) Zu diesem literatur- und mythengeschichtlichen Komplex vgl. Georg Heinrich Bode:
Geschichte der Hellenischen Dichtkunst. Zweiter Band: Geschichte der Lyrischen Dichtkunst
der Hellenen bis auf Alexandros den Grossen. Erster Theil: Ionische Lyrik, nebst Abhandlungen
über die ältesten Kultus- und Volkslieder und über die Tonkunst der Hellenen. Leipzig: Köhler
1838, S.
84 f., Anm.
1.
– Vom Gesang des Linos ist auch in der homerischen Ilias die Rede: „Und
inmitten von ihnen schlug ein Knabe die Leier
/ Hell mit lieblichem Ton, die schöne Weise des
Linos / Singend mit zarter Stimme; die anderen stampften im Tanze, / Jauchzten melodisch
dazu und hüpften dabei mit den Füßen.“ (Homer: Ilias. Übersetzung, Nachwort u. Register v.
Roland Hampe. Stuttgart: Reclam 1979, S. 295 [Achtzehnter Gesang, V. 569 – 572])
Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471