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Dass das problematische VerhÀltnis zwischen Autor und Kritiker mit der gönner-
haften Geste Reich-Ranickis, d. h. dem Abdruck von Handkes Essay in Lauter Ver-
risse, keineswegs in Entspannung ĂŒbergegangen, sondern bestenfalls ein zeitwei-
liger Waffenstillstand erreicht worden war, sollte sich bald zeigen. Habituelle PrÀ-
gungen wie literaturÀsthetische Positionen der beiden Kontrahenten erwiesen sich
weiterhin als inkompatibel: Weder hatte sich an Handkes Aversion gegen die von
Reich-Ranicki verkörperte, traditionellen Realismuskonzepten verpflichtete Litera-
turkritik etwas geÀndert, noch an Reich-Ranickis Ablehnung betont autoreflexiver
Schreibweisen, wie sie Handke zu dieser Zeit in immer neuen AnlÀufen erprobte.
Obschon der Autor Ende der 1960er Jahre allmÀhlich von den experimentellen
Schreibverfahren frĂŒherer Prosa- und Theaterarbeiten Abstand nahm, ja seinem
Verleger Unseld Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) gar als âklassische[Â
]
ruhige[Â
] Prosa, wie Kleist oder Stifterâ,60 ankĂŒndigte, spielte die offene Reflexion
und Thematisierung der eigenen literarischen Verfahren weiterhin eine wichtige
Rolle in Handkes Texten. Ein zentrales Element seiner Poetik sei es, so Handke
1974 im GesprĂ€ch mit GĂŒnther Nenning, nicht nur die Verwendung von SĂ€tzen
und Satzmodellen im Schreibprozess kritisch zu reflektieren, sondern âdie Refle-
xionâ auch âzugleich mit dem Satzâ explizit vorzufĂŒhren.61 Reich-Ranicki hingegen
waren, wie selbst Thomas Anz in seiner weitgehend hagiographischen Darstellung
des Kritikers konstatiert, â[p]oetologische Metareflexionenâ ganz grundsĂ€tzlich
âverhasstâ 62 â eine fundamentale Diskrepanz im LiteraturverstĂ€ndnis der beiden
Akteure, die bei nĂ€chster Gelegenheit zu neuen Konfrontationen fĂŒhren sollte.
Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke
(Wunschloses UnglĂŒck)
Am 15.Â
September 1972 veröffentlichte die ZEIT mit der Besprechung von Wunsch-
loses UnglĂŒck â unter dem prĂ€gnanten Titel Die Angst des Peter Handke beim
ErzĂ€hlen â Reich-Ranickis erste Printrezension eines Buches des mittlerweile
29-jÀhrigen Autors; an ihr lassen sich die skizzierten Konfliktlinien beispielhaft
nachvollziehen. Handke hatte die ErzÀhlung Anfang des Jahres unter dem Ein-
druck des Freitods seiner Mutter niedergeschrieben: Er habe sich, so die bekannte
60 Peter Handke an Siegfried Unseld, 20. 5. 1968. In: Peter Handke/Siegfried Unseld: Der Brief-
wechsel. Hg. v. Raimund Fellinger u. Katharina Pektor. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 93.
61 GĂŒnther Nenning: âSchreiben, intensiv wie im Traum!â [GesprĂ€ch mit Peter Handke.] In: Neue
Freie Presse (1974), H. 8, S. 7.
62 Anz: Marcel Reich-Ranicki (Anm.Â
15), S.Â
159.Â
â Stephan Porombka: Gemengelagen lesen. PlĂ€doyer
fĂŒr einen kulturwissenschaftlichen Umgang mit Literaturkritik. In: Zeitschrift fĂŒr Germanistik.
N. F. 15 (2005), H. 1, S. 109 â 121, hier S. 113, Anm. 22, spricht mit Blick auf Anzâ Reich-Ranicki-
Biographie von einem âdie Autobiographie des Kritikers paraphrasierende[n] Portraitâ.
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki156
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471