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VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG
Können EinwĂ€nde, die in der Literaturkritik formuliert werden, fĂŒr Autorin-
nen und Autoren positive, zur Revision ihres Schreibens anregende Effekte
haben? Marcel Reich-Ranicki, Handkes Erzfeind und der wohl prominenteste
Kritiker im deutschsprachigen literarischen Feld nach 1945, hat dies wiederholt
in Zweifel gezogen und eine entsprechende Wirkung als potentielle âSchwĂ€cheâ
der Schriftsteller identifiziert. Autoren seien, so Reich-Ranicki 1984 im Alma-
nach des Residenz Verlags, âweder lenkbare noch erziehbare Wesenâ, ja: âWenn
sich ein Schriftsteller von einem Kritiker erziehen lĂ€Ăt, dann lohnt es sich nicht,
diesen Schriftsteller zu erziehen.â 1 Dieter E. Zimmer, ĂŒber viele Jahre Literatur-
redakteur der ZEIT, hat in einer Festschrift zu Reich-Ranickis 60. Geburtstag
ganz Ă€hnliche Ăberlegungen angestellt:
Ich glaube nicht an die erzieherische Wirkung von Kritik, es sei denn in nebensÀch-
lichen, peripheren Punkten. Es ist eine Illusion, zu denken, Kritik könne einen Autor
erziehen. [âŠ] Ein erziehbarer Autor ist einer, der die Kritik wirklich verdient und
in dem MaĂ, in dem seine Erziehung voranschreitet, wohl verstĂ€rkt auf sich ziehen
wird. [âŠ] Denn daĂ er erziehbar ist, heiĂt, daĂ seine ganz eigene Stimme doch
nicht stark und fest genug war. Unmöglich sich vorzustellen, Kafka oder Proust oder
Joyce hÀtten sich durch Kritik beeinflussen lassen; hÀtten sie es, wÀren ihre Namen
heute vergessen.2
Solch pÀdagogischen Einfluss haben Thomas Bernhard und Peter Handke ebenso
entschieden von sich gewiesen, wenngleich sich der Gestus der ZurĂŒckweisung bei
den beiden Autoren doch recht unterschiedlich ausnimmt: âDass die Kritiker an
Verblödung leiden, ist kein Grund, den Schritt in der eingeschlagenen Richtung,
1 Marcel Reich-Ranicki: Erst die Poesie, dann die Theorie. In: Was Kritiker gerne lÀsen. Literatur-
almanach 1984. Hg. v. Jochen Jung. Salzburg, Wien: Residenz 1984, S. 99 â 101, hier S. 99. Vgl.
dazu auch seine ĂuĂerungen in Marcel Reich-Ranicki: Der doppelte Boden. Ein GesprĂ€ch mit
Peter von Matt. ZĂŒrich: Ammann 1992, S.Â
56 u.Â
78: âSchriftsteller lassen sich nicht erziehen. Und
wenn sie sich erziehen lassen, dann lohnt es sich nicht.âÂ
â âMeist haben meine Kritiken, wenn
es um die Autoren selber geht, nicht viel genĂŒtzt â und das ist gut so. Die Autoren lassen sich
ja nicht erziehen.â In dieselbe Richtung gehen die Aussagen in Rolf Becker/Hellmuth Karasek:
âIch habe manipuliert, selbstverstĂ€ndlich!â Kritiker Marcel Reich-Ranicki ĂŒber seine Rolle im
Literaturbetrieb und seinen Abgang von der FAZ. In: Der Spiegel, Nr. 1, 2. 1. 1989, S. 140 â 146,
hier S. 146: âĂberspitzt gesagt: Wenn sich ein Schriftsteller von einem Kritiker erziehen lĂ€Ăt,
dann lohnt es sich nicht, ihn zu erziehen.â
2 Dieter E. Zimmer: Notizen zur Psychologie des VerreiĂens und Verrissenwerdens. In: Literatur
und Kritik. Aus AnlaĂ des 60. Geburtstages von Marcel Reich-Ranicki hg. v. Walter Jens. Stutt-
gart: DVA 1980, S. 120 â 132, hier S. 126.
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471