Page - 183 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire)
In seiner Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises hatte Handke im Okto-
ber 1979, parallel zur Veröffentlichung von Langsame Heimkehr, sein Dasein als
âSchreibenderâ in der Tradition literarischer KlassizitĂ€t neu zu legitimieren ver-
sucht.190 Dem âentschieden hoffnungslosen Kafkaâ hatte er dabei sein Ideal einer
âeher bilderleere[n], von Detail und Fabel befreite[n] Heiterkeitâ gegenĂŒberge-
stellt,191 das, so Handkes abschlieĂende Wendung, die bestĂ€rkende âZuneigungâ
der Leser brauche.192 In einer Phase der âkrisenhafte[n] Transformation einer
vormals erfolgreichen Schreibregelâ 193 der BestĂ€rkung durch wohlmeinende
Leser im Besonderen bedĂŒrftig, hatte Reich-Ranickis vernichtende Rezension
fĂŒr Handke eine schwerwiegende Irritation bedeutet. Er habe sie, nach der Ăber-
windung des âfurchtbare[n] Problem[s] beim Schreiben von Sorgers Geschich-
teâ,194 als elementaren Angriff auf seine Existenz als Autor erlebt, wie Handke im
RĂŒckblick zu Protokoll gegeben hat:
Ja, mich hat, was der schreibt, vor zehn Jahren, das gebe ich zu, sehr beschÀftigt, weil
er dachte, nun hĂ€tte er mich endgĂŒltig zur Strecke gebracht. Da habe ich mir gesagt,
na, jetzt werden wir mal schauen. Ich glaube, daĂ ihm der Geifer noch immer von
den FangzÀhnen tropft.195
Hier ist ein zentraler Punkt formuliert, der sich auch in spÀteren Kommentaren
Handkes ĂŒber seinen Kontrahenten und vor allem ĂŒber dessen Kritik an Langsame
Heimkehr findet: Hatte Handke Mitte der 1970er Jahre die Klagen von Autoren,
ein Kritiker habe sie âzerstörtâ, noch zu âbloĂe[r] Theatralikâ erklĂ€rt, weil der
Kritisierte damit lediglich beanspruche, âin der Klageposition seinen Lebensin-
halt zu findenâ,196 machte er Reich-Ranicki nach dem polemischen Verriss seiner
190 Peter Handke: Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises. [1979] In: P. H.: Das Ende des
Flanierens (Anm. 103), S. 156 â 159, hier S. 158.
191 Ebd., S. 157.
192 Ebd., S. 159.
193 Karl Wagner: Die Tetralogie Langsame Heimkehr (1979 â 1981). [2005] In: K. W.: Weiter im Blues.
Studien und Texte zu Peter Handke. Bonn: Weidle 2010, S. 81 â 88, hier S. 84; vgl. dazu auch
Höller: Peter Handke (Anm. 28), S. 86 â 90.
194 Peter Handke: Die Geschichte des Bleistifts. Salzburg, Wien: Residenz 1982, S. 128.
195 MĂŒller: Im GesprĂ€ch mit Peter Handke (Anm. 112), S. 89.
196 Arnold: GesprÀch mit Peter Handke (Anm. 83), S. 35 f. Handke rekurriert an dieser Stelle auf
Karin Struck, deren Roman Die Mutter er Anfang 1975 im Spiegel negativ rezensiert hatte. In
einem Brief an Handke zeigte sich Struck daraufhin ĂŒber die âeinen Menschen vernichtende[Â
]
Rezensionâ ihres Buches enttĂ€uscht; zit. nach: Malte Herwig: Meister der DĂ€mmerung. Peter
Handke. Eine Biographie. MĂŒnchen: DVA 22010, S.Â
300. Vgl. dazu auch Kap.Â
V, Abschnitt âKeine
Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struckâ.
Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471