Page - 273 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ:
THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER
Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler
Als er Thomas Bernhard in den 1950er Jahren kennengelernt habe, so der Wiener
Autor Hermann Hakel in erst postum veröffentlichten Aufzeichnungen, sei dieser
âein kleiner Reporterâ gewesen und habe âSalzburg (und Ăsterreich) in kleinen
Artikelnâ gelobt; nun, gut dreiĂig Jahre spĂ€ter, jedoch wage es â[n]iemandâ mehr,
âdie jetzt nachzudruckenâ.1 Sind Hakels Kommentare zum Werdegang des jungen
Schriftstellers auch mit Vorsicht zu genieĂen, weil sie von einem tiefsitzenden
Ressentiment gegenĂŒber dem âdumpfe[n], schwermĂ€ulige[n] Wurzelsepp[ ]â
Bernhard zeugen,2 machen sie doch auf einen wesentlichen Bruch in der Karriere
des 1931 geborenen Autors aufmerksam: Viele Texte, die Bernhard in der ersten
HÀlfte der 1950er Jahre als Gerichtsberichterstatter, Kulturjournalist, ErzÀhler,
Lyriker und Feuilletonist fĂŒr Zeitungen und Anthologien verfasst hat, sind nur
schwer mit dem spÀteren Image des streitbaren Polemikers und Provokateurs in
Einklang zu bringen, demÂ
â im Gegensatz zum 20Â
Jahre Ă€lteren HakelÂ
â eine weit
ĂŒber den deutschsprachigen Raum hinausreichende Aufmerksamkeit zuteilwurde.
Aus den Worten Hakels, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Förderer
junger Schriftsteller (etwa von Gerhard Amanshauser) hervorgetan hat,3 spricht
nicht nurÂ
â wie aus seinen Bemerkungen zu Peter Handke 4Â
â der Missmut eines
AuĂenseiters ĂŒber den Erfolg eines in seinen Augen ĂŒberschĂ€tzten Autors. Sie
rufen, vier Jahre nach Hakels und zwei Jahre nach Bernhards Tod publiziert,
auch in Erinnerung, dass Bernhards erste Schreibversuche den Furor und die
polemische Energie des spĂ€teren Skandalautors kaum erahnen lieĂen. Sein Weg
zum ersten Prosabuch, dem 1963 im Frankfurter Insel Verlag erschienenen Frost,
war â gerade im Vergleich mit dem literarischen shooting star Handke â lang-
wierig und mĂŒhselig. Erst mit der Zeit gelang es ihm, sich vom restaurativen
1 Hermann Hakel: DĂŒrre Ăste. Welkes Gras. Begegnungen mit Literaten. Bemerkungen zur Lite-
ratur. Wien: Lynkeus 1991, S. 336.
2 Ebd., S. 334 f.
3 Vgl. Gerhard Amanshauser/Hermann Hakel: Die taoistische Powidlstimmung der Ăsterreicher.
Briefwechsel 1953 â 1986. Hg. v. Hans Höller. Weitra: Bibliothek der Provinz 2005; zu Hakels
Rolle als Mentor im österreichischen Literaturbetrieb vgl. Evelyne Polt-Heinzl: Die grauen
Jahre. Ăsterreichische Literatur nach 1945. Mythen, Legenden, LĂŒgen. Wien: Sonderzahl 2018,
S. 143 f.
4 Sie finden sich in Hakel: DĂŒrre Ăste. Welkes Gras (Anm.Â
1), S.Â
347 â 353, unter dem bezeichnen-
den Titel âPeter Handkes kĂŒnstlerische Selbstbefriedigungâ.
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471