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âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch
Obschon es sich bei Bernhards Gerichtssaalreportagen und den fĂŒr andere Spar-
ten des Demokratischen Volksblatts verfassten Texten im Grunde um getrennte
Bereiche seiner journalistischen TĂ€tigkeit handelt â die nicht zuletzt durch die
Differenz AnonymitĂ€t vs. OnymitĂ€t markiert sind â, gehen die Themen manch-
mal auch ineinander ĂŒber. Der Ende November 1952 veröffentlichte Beitrag
Prozesse, nichts als Prozesse ist im Gegensatz zu den Gerichtsberichten mit den
Initialen âTh. B.â gezeichnet, greift aber doch ein juristisches Thema auf.155 Darin
kolportiert der 21-jÀhrige Journalist, dass die KriminalitÀt unter Jugendlichen
als âFolge der Flut von verabscheuungswĂŒrdiger Literatur, die in groĂen Men-
gen an allen Ecken und Enden angeboten wirdâ, zu begreifen sei: âBeinahe jeder
Jugend-Schöffengerichtsprozeà endet mit der Feststellung, daà die Ursache des
Verbrechens in den Gossenromanen und Schundfilmen zu suchen ist. Und trotz
Jugendschutz- und Schundgesetzen ist man nicht in der Lage (oder will man es
nicht sein?), diese Anleitungen zum Verbrechen zu beseitigen.â (TBW 22.1, 87)
Jene âreiĂerische[n] Filmprodukte aus unserem und dem ĂŒberseeischen Kon-
tinentâ (TBW 22.1, 87), denen Bernhard in Prozesse, nichts als Prozesse die Ver-
antwortung fĂŒr die steigende KriminalitĂ€t unter Jugendlichen zuschiebt, kannte
er nicht nur vom Hörensagen. In Freumbichlers Lehrgedichten Erziehung zu
Vernunft und Fröhlichkeit, die er seinem Enkel als Trost und Leitlinie fĂŒr das
Leben gewidmet hatte, ist ein Vorwurf zu lesen, der dem jungen Rezensenten
bei Urteilen wie diesem womöglich noch in den Ohren gehallt hat:
Du machst mir manchmal bange Sorgâ, ich weiĂ nicht, was mir ahnt,
Ich seh dich niemals einsam sitzen, ein Buch in deiner Hand.
Du trÀgst ins Kino deine Groschen, zu dieser Afterkunst,
Ergötzt dich in der Traumfabrik, dem lÀcherlichen Schwindeldunst.
An diesem ausgefallenen, jÀmmerlichen Konservenleben,
Das schlaue GeldsackkrÀmer euch zur Verdummung geben.156
Freumbichlers etwas holprige Ermahnung legt nahe, dass Bernhard sich durchaus
fĂŒr das Kino als Kunstform und FreizeitbeschĂ€ftigung begeistern konnteÂ
â aber
wohl stets mit schlechtem Gewissen gegenĂŒber dem strengen GroĂvater, handelte
es sich diesem zufolge doch um eine âAfterkunstâ, fĂŒr deren Genuss man sich
zu schÀmen hatte. Als der Chefredakteur des Demokratischen Volksblatts, Josef
Kaut, im Dezember 1952 ĂŒber Bernhards erste Lesung an der Volkshochschule
155 Zu diesem Text vgl. Greite: âProzesse, nichts als Prozesseâ (Anm. 52), S. 98, sowie zuletzt
Mittermayer: Das Salzburg des Thomas Bernhard (Anm. 78), S. 32 f.
156 Freumbichler: Erziehung zu Vernunft und Fröhlichkeit (Anm. 10), S. 38.
âZeitungsgâschichtâlnâ: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker314
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471