Page - 357 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Image of the Page - 357 -
Text of the Page - 357 -
Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini)
Anfang 1981Â â die vierte Regierung Kreisky war seit gut eineinhalb Jahren im
AmtÂ
â beauftragte die Zeitschrift profil Bernhard damit, eine Rezension ĂŒber eine
Festschrift zum 70. Geburtstag des Bundeskanzlers zu verfassen. Die Bespre-
chung wurde vier Tage nach dem JubilÀum, am 26. Januar 1981, veröffentlicht:
ein von der Zeitschrift provozierter, jedenfalls bewusst in Kauf genommener
Skandal, war zu diesem Zeitpunkt Bernhards Aversion gegen Kreisky doch
allseits bekannt, seine Reaktion auf diese Publikation folglich absehbar.40 Die
Kulturredaktion des profil hatte zunĂ€chst nicht damit gerechnet, Bernhard fĂŒr
eine Besprechung des Bandes gewinnen zu können; ĂŒber Vermittlung des Resi-
denz-Verlegers Wolfgang Schaffler hatte man jedoch, wie sich Horst Christoph
erinnert, âwenig MĂŒheâ, ihm âdas Vorhaben schmackhaft zu machenâ. Als
Bernhards Text dann vorlag, entwickelten sich in der Redaktion heftige Dis-
kussionen darĂŒber, ob er in dieser Form gedruckt werden könne; man einigte
sich schlieĂlich darauf, in einem distanzierenden Nachsatz zu betonen, dass es
zum journalistischen Ethos des Blattes zÀhle, abweichenden Meinungen und
Positionen Gehör zu verschaffen.41
Bernhard zeichnet in seiner Rezension nicht nur den österreichischen Kanzler
als ârenitent gewordene[n] SpieĂbĂŒrgerâ und âlĂ€ngst der LĂ€cherlichkeit anheim-
gefallene[n] alte[n], am eigenen Murren wĂŒrgende[n] sture[n] Sozimonarch[en]â
(TBW 22.1, 623 f.), sondern er wendet sich â im Sinne einer doppelten Adressie-
rung seiner PolemikÂ
â auch gegen die prominenten Verfasser des Buches: Gerhard
Roth und Peter Turrini, beide etwas mehr als zehn Jahre jĂŒnger als Bernhard
(also aus der Generation Handkes), aber bereits als wichtige Autoren der öster-
reichischen Literatur anerkannt, seien ein Beispiel dafĂŒr, âwie schwachsinnig und
charakterlos unsere jungen opportunistischen Schriftsteller heute sindâ (TBW
22.1, 624). Sein Urteil trifft demnach sowohl den Gegenstand des besprochenen
Bandes, Bruno Kreisky, als auch dessen Verfasser. Die zunehmende Antipathie
40 Vgl. Sehr geschĂ€tzte Redaktion (Anm.Â
4), S.Â
109; Pfabigan: Motive und Strategien der Ăsterreich-
kritik (Anm.Â
18), S.Â
45; zu den HintergrĂŒnden Mittermayer: Thomas Bernhard [2015] (Anm.Â
4),
S.Â
332 â 334, sowie den Kommentar in TBW 22.1, 826 â 830 u.Â
858 f. Dazu auch die Bemerkungen
in Petritsch: Bruno Kreisky (Anm. 13), S. 289 f., der auf eine als Reaktion auf Bernhards Pole-
mik gezeichnete Karikatur hinweist: âManfred Deix interpretierte in einer groĂartig-hinter-
grĂŒndigen Karikatur die publizistische Kontroverse als politische Fronleichnamsprozession.
WĂ€hrend Kreisky unter einem Baldachin â begleitet von den beiden Ministranten Gerhard
(Roth) und Peter (Turrini) â ĂŒber die Felder getragen wird, schlĂ€gt ein sichtlich betrunkener
Thomas Bernhard beim Kreisky-Marterl, auf das die Prozession zusteuert, sein (poetisches)
Wasser ab.â
41 So die Rekonstruktion von Horst Christoph: Chronik eines Eklats. In: profil, Nr. 6, 7. 2. 2011,
S. 97. Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471