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IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ:
PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI
Princeton 1966 und die Folgen
Im Herbst 1966, wenige Monate nach der Tagung der Gruppe 47 in Princeton,
hob Peter Handke aus der Riege der Literaturkritiker, die er groĂteils fĂŒr âindis-
kutabelâ hielt, Marcel Reich-Ranicki gleich an erster Stelle als negatives Beispiel
hervor.1 Ebenso kann der knapp zwei Jahre darauf in den Grazer manuskripten
veröffentlichte Essay Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit als Beleg dafĂŒr
gelten, dass Handke schon damals eine ausgeprĂ€gte Aversion gegen den âGroĂ-
kritikerâ hegte.2 Mag fĂŒr diese auch (gegenseitige) persönliche Antipathie eine
Rolle gespielt haben, so fuĂte der Konflikt der beiden Kontrahenten doch zual-
lererst auf einer Unvereinbarkeit ihrer jeweiligen Àsthetischen Konzepte. Reich-
Ranickis Ideal eines organischen Kunstwerks, das seine Faktur geschickt zum
Verschwinden bringt, standen die literarischen Verfahren und theoretischen
Positionen in Handkes FrĂŒhwerk diametral entgegen. Dem Vorwurf Handkes,
Reich-Ranicki âverniedlich[e]â das âerkennbare Machen von Literaturâ, âindem
er dafĂŒr das beliebte Wort âBastelnâ verwendetâ,3 ist ein grundlegender Antago-
nismus im literarischen Feld der spĂ€ten 1960er und frĂŒhen 1970er Jahre einge-
schrieben. Die sorgsam gepflegte, immer wieder aufs Neue geschĂŒrte Feindschaft
sollte lange Zeit andauern. In gewisser Weise kann sie als paradigmatisch fĂŒr
die schwierige Beziehung von Autor und Kritiker, fĂŒr das âspannungsreiche[Â ]
1 Peter Handke: Bitte kein Pathos! In: Abendzeitung, 22./23. 10. 1966: âSie wissen, daĂ ich kein
Feind der Gruppe bin, nicht sein kann, weil ich zu wenig von ihr weiĂ. Ich finde nur die meis-
ten Kritiker in ihr (Marcel Reich-Ranicki, Joachim Kaiser, Walter Jens, Hans Mayer) indisku-
tabel.â Von den etablierten âGroĂ-Kritikernâ der Gruppe fehlt in Handkes AufzĂ€hlung lediglich
Walter HöllererÂ
â diesen hatte Handke allerdings bereits in Princeton im Anschluss an dessen
Lesung als âvöllig geistlosâ attackiert (Audioaufzeichnung der Lesungen und Diskussionen der
Gruppe-47-Tagung in Princeton 1966. In: Princeton University Department of German, https://
german.princeton.edu/department/about/resources/gruppe-47-recordings [Stand 14. 10. 2020],
Lesung Höllerer, Wortmeldung Handke, 20:53 â 21:37).
2 Vgl. Peter Handke: Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit. In: manuskripte (1968), H.Â
22,
S.Â
40 â 41; durch den raschen Wiederabdruck im âHandke-Readerâ (1969) sowie die Aufnahme
in den Band Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972) wurde er bald einem gröĂeren
Publikum bekannt; vgl. Prosa, Gedichte, TheaterstĂŒcke, Hörspiele, AufsĂ€tze. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1969, S. 288 â 291; Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 1972, S. 203 â 207. In der Folge wird er aus dem am weitesten verbreiteten Band Ich bin
ein Bewohner des Elfenbeinturms zitiert.
3 Handke: Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit (Anm. 2), S. 204.
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471