Page - 246 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber
Als Ideal und Vorbild eines Rezensenten gilt Handke bis heute der Filmkritiker
Helmut FĂ€rber, Jahrgang 1937, den der junge Autor Mitte der 1960er Jahre als
versierten Kino-Enthusiasten und subtilen Kommentator kennen und schÀtzen
gelernt hatte: âHelmut FĂ€rber, mit seinen Filmkritiken in der SĂŒddeutschen Zei-
tung und der filmkritik, hat mich, lang istâs her, auf die SprĂŒnge gebracht, Dinge,
die einem durch und durch gegangen sind, âHerzenssachenâ, statt sie zu analy-
sieren, einfach, oder auch nicht einfach, zu erzĂ€hlen.â 124 In FĂ€rbers Artikeln zum
zeitgenössischen Film sah Handke die Idee verwirklicht, wonach die Kritik eines
Kunstwerks sich nicht in souverÀnen Gesten der Wertung und in kulturhisto-
rischen Vergleichen erschöpft, sondern dem Moment des Erlebens von Kunst â
in möglichst jargonfreiem DuktusÂ
â eine zentrale Bedeutung beimisst. 1994 hat
Handke sich in seiner Laudatio zur Verleihung des Petrarca-Preises an FĂ€rber
an den Beginn seiner Faszination fĂŒr dessen Arbeiten erinnert:
Wer ist Helmut FĂ€rber? Beim Lesen bin ich ihm zuerst begegnet als einem Filmkri-
tiker, Mitte der sechziger JahreÂ
[âŠ]. Zu Filmen, gleich welchen, eine solch feine und
zugleich bodenstÀndige Sprache zu Gesicht zu bekommen, und das auch noch in
einer Tageszeitung, das hat mich damals wachgestoĂen, fĂŒrs Filmeanschauen, aber
auch fĂŒr das Tun und Schreiben, und ich weiĂ es, nicht nur mich.125
Im Bericht des Kritikers anlĂ€sslich eines âScience-Fiction-Filmfestival[s] in
Triestâ sei, so Handke, der in extenso aus den Arbeiten FĂ€rbers zitiert, âkein
einziger Filmâ vorgekommen, âdafĂŒr der Mond ĂŒber der Leinwand und vor
allem, ausfĂŒhrlich beschrieben, ein Schaufenster in der Triester Innenstadt
mit phantastischen Weltraumfiguren, geknetet, hÀndisch, aus Marzipan, samt
Nachtbeleuchtung.â 126 Es sind die scheinbaren NebensĂ€chlichkeiten und Begleit-
umstÀnde der Kunstwahrnehmung, die in FÀrbers Kritiken wie in Handkes
literarischer Poetik (und Literaturkritik) eine wichtige Rolle einnehmen; ihre
unprĂ€tentiöse WĂŒrdigung trĂ€gt, wie man seinen Bemerkungen entnehmen kann,
124 Handke: Eine Ideal-Konkurrenz (Anm.Â
84), S.Â
152. Zu Handkes WertschĂ€tzung fĂŒr FĂ€rber vgl.
Struck: Der Begleitschreiber (Anm. 65), S. 14 f. Im Literaturarchiv Salzburg werden Hefte der
Zeitschrift filmkritik aus den 1960er Jahren aufbewahrt, in denen Peter Handke Texte FĂ€rbers
handschriftlich annotiert hat. Vgl. etwa Peter Handke: Handschriftliche Annotationen zu
Helmut FĂ€rber: Die Verachtung. La MĂ©pris. In: Filmkritik (1965), H. 3, S. 141 â 143, hier S. 142.
In: Literaturarchiv Salzburg, Bestand: Peter Handke, Sammlung Helmut FĂ€rber: âH. F. geht ein
auf die Art des anderen (wenn der eine hat)â.
125 Peter Handke: Wie ein Letzter ein Erster; Lob eines âKritikersâ. Zu Helmut FĂ€rber. [1994] In:
P. H.: MĂŒndliches und Schriftliches (Anm. 47), S. 39 â 65, hier S. 40.
126 Ebd., S. 43.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik246
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471