Page - 70 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Image of the Page - 70 -
Text of the Page - 70 -
bloĂ ein Satz, ein Absatz, eine Seite, dagegen ist etwas zu Aktualisierendes â zu
Erarbeitendesâ.29 Das âAktuelleâ aus Politik und Zeitgeschehen und das erst nach
und nach âZu-Aktualisierendeâ der Literatur stehen bei Peter Handke seit jeher
in einem spannungsreichen VerhÀltnis.
Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe,
Nachmittag eines Schriftstellers)
Was Bernhard und Handke jedenfalls eint, ist ein schwieriges, von vielerlei Fak-
toren beeinflusstes VerhÀltnis zum Medium der Zeitung. Dabei spielt das Inte-
resse an der journalistischen Wahrnehmung und Kommentierung des eigenen
Schreibens â die Suche nach dem eigenen Namen, nach Rezensionen eigener
Werke bei der ZeitungslektĂŒre â, eingestanden oder nicht, eine wichtige Rolle.
âWenn Sie heute eine Zeitung aufmachen, lesen Sie fast nur vom Thomas Mann
irgendwas. Jetzt ist der schon dreiĂig Jahre tot, und immer wieder, ununter-
brochen, das ist ja nicht zum Aushaltenâ, klagt Thomas Bernhard im zitierten
GesprÀch mit Werner Wögerbauer (TBW 22.2, 289). Der Blick in die Zeitung,
ins Feuilleton, kontrolliert und taxiert die Verteilung der Aufmerksamkeit im
literarischen Feld, nimmt wohlwollend zur Kenntnis oder beanstandet die PrÀ-
senz anderer, vermeintlich weit weniger diskussionswĂŒrdiger Akteure: Bernhard
habe ânur Zeitung gâlesen, damit er schaut, ob er drinnen stehtâ, so Franz Josef
Altenburg, ein WeggefĂ€hrte des Autors in einem âZeitzeugengesprĂ€châ mit Krista
Fleischmann.30 Wenn statt Thomas Bernhard Thomas Mann ErwÀhnung fand,
war das dem Autor ein fortwĂ€hrendes Ărgernis.
Das Problem ist dabei, wie es scheint, stets ein doppeltes: zunÀchst der Wunsch
nach angemessener WertschÀtzung und positiver BestÀtigung durch das Feuille-
ton angesehener, ĂŒberregional bedeutender Zeitungen und Zeitschriften, zugleich
aber auch das BedĂŒrfnis, nicht zu einem âGefangene[n] der Redakteureâ 31 zu
29 Handke: Gestern unterwegs (Anm. 16), S. 201.
30 Krista Fleischmann: Franz Josef und Christa Altenburg. In: K. F.: Thomas BernhardÂ
â Eine Erin-
nerung. Interviews zur Person. Wien: Edition S 1992, S.Â
111 â 122, hier S.Â
119; dazu auch Joachim
Hoell: Thomas Bernhard. MĂŒnchen: dtv 2000, S.Â
120. In seiner Ăkonomie der Aufmerksamkeit
hat Georg Franck ein âZĂ€hlwerkâ beschrieben, das fortwĂ€hrend âregistriert, wieviel [Aufmerk-
samkeit] die anderen verdienenâ: âIm Reden ĂŒber Dritte ist, offen oder versteckt, immer auch
die Rede davon, ob zuviel oder zu wenig Aufhebens um sie gemacht wird, ob sie die Beachtung
verdienen, die sie finden, oder ob ihnen schon zuviel der Ehre zuteil wird, wenn man ĂŒber sie
spricht.Â
[âŠ] Wir vergleichen, wenn wir uns ĂŒber Dritte unterhalten, ganz unwillkĂŒrlich deren
Einkommen mit unserem eigenen.â (Georg Franck: Ăkonomie der Aufmerksamkeit. Ein Ent-
wurf. MĂŒnchen, Wien: Hanser 1998, S. 115)
31 Peter Handke: Nachmittag eines Schriftstellers. ErzĂ€hlung. Salzburg, Wien: Residenz 1987, S.Â
36.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik70
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471