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Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini)
Anfang 1981 – die vierte Regierung Kreisky war seit gut eineinhalb Jahren im
Amt
– beauftragte die Zeitschrift profil Bernhard damit, eine Rezension über eine
Festschrift zum 70. Geburtstag des Bundeskanzlers zu verfassen. Die Bespre-
chung wurde vier Tage nach dem Jubiläum, am 26. Januar 1981, veröffentlicht:
ein von der Zeitschrift provozierter, jedenfalls bewusst in Kauf genommener
Skandal, war zu diesem Zeitpunkt Bernhards Aversion gegen Kreisky doch
allseits bekannt, seine Reaktion auf diese Publikation folglich absehbar.40 Die
Kulturredaktion des profil hatte zunächst nicht damit gerechnet, Bernhard für
eine Besprechung des Bandes gewinnen zu können; über Vermittlung des Resi-
denz-Verlegers Wolfgang Schaffler hatte man jedoch, wie sich Horst Christoph
erinnert, „wenig Mühe“, ihm „das Vorhaben schmackhaft zu machen“. Als
Bernhards Text dann vorlag, entwickelten sich in der Redaktion heftige Dis-
kussionen darüber, ob er in dieser Form gedruckt werden könne; man einigte
sich schließlich darauf, in einem distanzierenden Nachsatz zu betonen, dass es
zum journalistischen Ethos des Blattes zähle, abweichenden Meinungen und
Positionen Gehör zu verschaffen.41
Bernhard zeichnet in seiner Rezension nicht nur den österreichischen Kanzler
als „renitent gewordene[n] Spießbürger“ und „längst der Lächerlichkeit anheim-
gefallene[n] alte[n], am eigenen Murren würgende[n] sture[n] Sozimonarch[en]“
(TBW 22.1, 623 f.), sondern er wendet sich – im Sinne einer doppelten Adressie-
rung seiner Polemik
– auch gegen die prominenten Verfasser des Buches: Gerhard
Roth und Peter Turrini, beide etwas mehr als zehn Jahre jünger als Bernhard
(also aus der Generation Handkes), aber bereits als wichtige Autoren der öster-
reichischen Literatur anerkannt, seien ein Beispiel dafür, „wie schwachsinnig und
charakterlos unsere jungen opportunistischen Schriftsteller heute sind“ (TBW
22.1, 624). Sein Urteil trifft demnach sowohl den Gegenstand des besprochenen
Bandes, Bruno Kreisky, als auch dessen Verfasser. Die zunehmende Antipathie
40 Vgl. Sehr geschätzte Redaktion (Anm.
4), S.
109; Pfabigan: Motive und Strategien der Österreich-
kritik (Anm.
18), S.
45; zu den Hintergründen Mittermayer: Thomas Bernhard [2015] (Anm.
4),
S.
332 – 334, sowie den Kommentar in TBW 22.1, 826 – 830 u.
858 f. Dazu auch die Bemerkungen
in Petritsch: Bruno Kreisky (Anm. 13), S. 289 f., der auf eine als Reaktion auf Bernhards Pole-
mik gezeichnete Karikatur hinweist: „Manfred Deix interpretierte in einer großartig-hinter-
gründigen Karikatur die publizistische Kontroverse als politische Fronleichnamsprozession.
Während Kreisky unter einem Baldachin – begleitet von den beiden Ministranten Gerhard
(Roth) und Peter (Turrini) – über die Felder getragen wird, schlägt ein sichtlich betrunkener
Thomas Bernhard beim Kreisky-Marterl, auf das die Prozession zusteuert, sein (poetisches)
Wasser ab.“
41 So die Rekonstruktion von Horst Christoph: Chronik eines Eklats. In: profil, Nr. 6, 7. 2. 2011,
S. 97. Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471