Seite - 95 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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die von ganz kleinen, ausgewachsenen Menschen bevölkert ist, die man ruhig
schwachsinnig nennen kann. Nicht gröĂer als einen Meter vierzig im Durch-
schnitt, torkeln sie zwischen Mauerritzen und GĂ€ngen, im Rausch erzeugt. Sie
scheinen typisch zu sein fĂŒr das Tal.â Nicht nur die âLandschaftâ sei von ausge-
suchter âHĂ€Ălichkeitâ, auch ihre Bewohner werden in Bernhards Roman nicht
eben freundlich gezeichnet (TBW 1, 10 f.). Ein Monat nach der skandaltrÀchtigen
Preisverleihung in Wien brachten Abgeordnete der Volkspartei im Salzburger
Landtag eine Anfrage an Landeshauptmann Hans Lechner (ĂVP) ein, weil sie
in Bernhards Frost Landschaft und Einwohner des Pongaus verunglimpft sahen.
Ohne sich des fiktionalen Charakters des Textes bewusst zu sein, erkannten sie
in der Schilderung der örtlichen VerhĂ€ltnisse eine âin der Literatur der Gegen-
wart einzig dastehende Entgleisung und BrĂŒskierung eines Teiles der Salzburger
Bevölkerungâ.115 Landeshauptmann Lechner gab daraufhin zu Protokoll, dass er
bereits im fĂŒr die Verleihung zustĂ€ndigen Unterrichtsministerium Protest ein-
gelegt habe; die Auszeichnung sei, so habe man ihm mitgeteilt, âin gĂ€nzlicher
Unkenntnis der örtlichen Gegebenheitenâ erfolgt.116 Was die Kenntnis der âört-
lichen Gegebenheitenâ an der WertschĂ€tzung eines literarischen Kunstwerks
geÀndert hÀtte, blieb in der entsprechenden Landtagsdiskussion freilich im Dun-
keln. Am 17. April, also gut eineinhalb Monate nach der Preisverleihung, nahm
auch ein Leserbrief eines Oberschulrats namens Hans MĂŒller in den Salzburger
Nachrichten an den âBeleidigungen unseres Bergvolkesâ in Frost AnstoĂ.117 Die
zweite Welle der Rezeption des Buches in Salzburg warÂ
â befördert von der ĂVP,
die offenbar mit Blick auf die anstehende Landtagswahl bemĂŒht war, sich als
âHeimat parteiâ zu profilieren 118Â â sehr viel unerfreulicher und emotionaler. Es
liegt durchaus nahe zu vermuten, dass Bernhards Erinnerung an die âbösartigen
Verrisseâ seines DebĂŒts von diesen Vorkommnissen ĂŒberlagert wurde.
âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â
mit einem Exkurs zu Elias Canetti
Ein anschauliches Beispiel fĂŒr Bernhards EinwĂ€nde gegen die literaturkritische
Kommentierung seiner BĂŒcher bietet ein Dokument, das im Zusammenhang der
Reihe âAutoren diskutieren mit ihren Kritikernâ entstanden ist, die im November
115 Zit. nach: Mittermayer: Thomas Bernhard [2015] (Anm. 42), S. 189; vgl. dazu auch die Schil-
derung in Herbert Moritz: Das Milieu der Gerichtsberichte hat ihn beeinflusst. In: Was reden
die Leute (Anm. 36), S. 44 â 51, hier S. 49.
116 Zit. nach: Mittermayer: Thomas Bernhard [2015] (Anm. 42), S. 190.
117 Zit. nach: Sehr geschÀtzte Redaktion (Anm. 42), S. 30.
118 Vgl. Mittermayer: Thomas Bernhard [2015] (Anm. 42), S. 190.
Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471